048 - Die Bande des Schreckens
kleinen Diebe und Schwindler, wußte ihre Familiengeschichten auswendig und interessierte sich für die Gefangenenwohlfahrtspflege.
»Ich weiß nicht -«, meinte er, als ihn Long in dieser Angelegenheit konsultierte, »diese Leute arbeiten für sich. Banden? Die einzigen Banden, die ich kenne, sind die Raufbanden in Hoxton, ein paar Geldschrankknacker und die Rennplatzbanden.«
Trotzdem setzte der Wetter seine Nachforschungen fort. Er sandte zwei Beamte aus, den einen nach Deptford, den ändern nach Nottingdale. Außerdem setzte er eine Reihe von Polizeispitzeln ein, ohne deren Hilfe die Polizei bei jedem Schritt straucheln würde.
Als er am Abend nach Hause kam, fand er einen Brief vor. Er brauchte nicht erst auf den Poststempel zu sehen, auf der Rückseite des Umschlags stand in zierlichen Buchstaben ›Little Heartsease, Berkshire‹, und er erkannte die Handschrift von Mr. Cravel.
Er öffnete den Brief, der mit der Schreibmaschine geschrieben war. ›Werter Mr. Long!
Wie Sie sich wohl denken können, hat die Saison sehr unglücklich für uns abgeschlossen. Mr. Monkford war jedoch einer unserer persönlichen Freunde, und sein Tod überschattet alle materiellen Fehlschläge. Würden Sie vielleicht für eine Vermutung, die ich hege, Interesse haben, auch wenn sie phantastisch erscheinen mag? Falls Sie etwa um den 16. herum, wenn ich wieder nach Heartsease zurückgekehrt bin, kommen wollen, würde ich gern die Sache mit Ihnen besprechen.‹ Der Wetter grinste. Der 16. August! Es klang wie die sprichwörtliche Einladung der Spinne. Immerhin - vielleicht würde er den ›Professor‹ kennenlernen. Er faltete den Brief und verschloß ihn in seinem Schreibtisch. Obgleich er lächelte, war ihm dabei nicht wohl. Das eingeschnitzte Datum an der Kabinenwand - das Datum im Brief! Die auffallende Übereinstimmung ließ nur eine Deutung zu. Das Datum auf dem Schiff und diese briefliche Einladung hatten den Zweck, seine ganze Phantasie auf einen bestimmten Termin hin zu bannen, ihm also bis zum Sechzehnten ein Gefühl der Sicherheit vorzutäuschen. In Wirklichkeit aber lag die Gefahrenzone zwischen dem jetzigen Augenblick und dem Sechzehnten. Mit jedem Morgen konnte der Schicksalstag beginnen - eine nicht gerade rosige Aussicht! Die Galgenhand, die nach dem Henker, dem Richter, dem Staatsanwalt gegriffen und Monkford getötet hatte, streckte sich nach ihm aus. Jeden Augenblick konnte sie ihn vernichten. In diese Gedanken, die ihm seine eigene Gefahr vor Augen führten, versunken, schrak er zusammen, als an die Tür geklopft wurde.
»Zum Teufel!« rief der Wetter, über seine Nervosität erschrocken. »Ich werde verrückt. Herein!« Entschlossen richtete er sich auf, bereit, jedem Schicksal entgegenzutreten.
Sein Diener kam herein, schloß die Tür und fragte mit gedämpfter Stimme:
»Wollen Sie Miss Alice Cravel sprechen, Sir?« »Ich lasse die Dame bitten!«
Einen Augenblick später betrat Alice Cravel das Zimmer. Auf seine einladende Geste hin wehrte sie ab:
»Nein, danke, ich will stehenbleiben.« Ohne Übergang fragte sie: »Lieben Sie das Leben?«
»Ja, ziemlich.« Er -richtete den Blick auf die behandschuhten, gefalteten Hände, von denen ein goldener Handbeutel herabhing.
»Das tat auch Crayley«, sagte sie und starrte ihn an.
Sie benahm sich so seltsam, daß er dachte, sie sei betrunken oder verrückt.
»Jackson Crayley liebte das Leben - Sie hielten ihn für einen Narren. Sie dachten, sein Garten sei nur eine Laune, und er interessiere sich gar nicht dafür. Aber die Farbenpracht und der Duft der Blumen machten ihm das Leben teuer. Jackson liebte hübsche Dinge.«
Long hörte, ohne etwas zu erwidern, erwartungsvoll zu und beobachtete andauernd ihre Hände.
»Ich glaube, auch Ihnen bedeutet das Leben mehr, als nur Menschen ins Gefängnis und - an den Galgen zu bringen. Vielleicht lieben auch Sie hübsche Dinge? Vielleicht...« Ihre Stimme zitterte. »Ja, natürlich, ich mag hübsche Dinge und verabscheue die häßlichen«, antwortete er gleichgültig. Er stand ihr gerade gegenüber, die Hände in den Jackentaschen, den Kopf etwas gesenkt, denn sie war kleiner als er.
»Das tat auch Jackie«, wiederholte sie leise. »Und jetzt ist er tot - tot!«
Sie bedeckte die Augen mit einer Hand und wankte, so daß er dachte, sie falle um. Er schob ihr einen Stuhl hin. »Nein, nein«, wehrte sie ungeduldig ab. »Aber ich muß Ihnen noch etwas sagen, was ich nicht sagen wollte. Ich hasse Sie!« Sie stieß dieses
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