0484 - Die Rächerin aus Aibon
wie ein Trompetenstoß. Muriel mußte ihn hören. Sie blieb aber gelassen und sprintete nicht sofort in das Büro. Relativ langsam schob sie die Tür auf.
»Was gibt es denn?«
»Verdammt, wer hat da angerufen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Sag mal, bist du übergeschnappt? Woher soll ich wissen, wer angerufen hat?«
»Ja, es ging über meine Leitung.« Er drehte sich um und nahm wieder Platz.
»Dann mußt du doch wissen…«
»Nein, das weiß ich eben nicht. Die Anruferin hat ihren Namen nicht gesagt.«
»Es war also eine Frau.«
»Ja.«
»Deine Ehemalige?«
»Bockmist, die hätte ich an der Stimme erkannt. Für mich war sie eine Fremde.«
»Vielleicht eine von deinen Tussys, die du manchmal aufreißt«, meinte Muriel spöttisch.
Er streckte den Arm aus. »Halt dich ja zurück, Schwesterchen.«
»Dann darfst du mich auch nicht fragen.«
Lester senkte den Kopf und schüttelte ihn. »Es war eine Fremde. Ich habe deren Stimme noch nie gehört. Sie sprach davon, zu mir zu kommen.«
»Dann wirst du sie ja bald sehen. Wozu die Aufregung?«
»Aber sie sagte noch etwas. Sie wäre eine Rächerin.«
Muriel nahm das nicht ernst. »Wie dramatisch.«
»Ich an deiner Stelle würde nicht so spotten. Mir ist nicht zum Lachen zumute. Die ganze Sache kann verdammt gefährlich werden.« Er holte durch die Nase Luft. »Jedenfalls habe ich ein komisches Gefühl. Ihre Stimme klang so harmlos, so hell wie ein Glockenklingen, aber ich habe den drohenden Unterton genau verstanden. Muriel, ich sage dir, hier kommt etwas auf mich zu. Wir müssen uns warm anziehen.«
»Da hat dir jemand einen Streich spielen wollen.«
»Und wer?«
»Was weiß ich, wem du alles auf die Füße getreten bist. Ich kann mir vorstellen, daß einige Leute durchaus bereit sind, dich liebend gern in die Hölle zu schicken. Möglicherweise hat dir ein Konkurrent diese Frau auf den Hals gehetzt.« Er ließ die Namen vor seinem geistigen Auge Revue passieren und trommelte dabei mit der Fingerspitze auf dem Schreibtisch.
»Kannst du dir denken, wer es gewesen ist?«
»Nein.«
»Vielleicht ruft sie noch einmal an.«
»Und dann?«
Muriel hob beide Arme. »Meine Güte, stell dich nicht so an. Du bist wie ein Baby. Wenn sie anruft, wirst du versuchen, sie zu einem Treffen zu überreden.«
»Ja, das ist eine Möglichkeit.«
Muriel Conway lachte. Ihr Bruder wußte nicht, ob er an- oder ausgelacht wurde. »Komisch, der Anruf hat dich durcheinandergebracht. Du bist doch sonst nicht so. Spielst immer den harten Mann, den nichts erschüttern kann. Aber jetzt…«
»Das hier war etwas anderes!«
»Ach - und wieso? Erinnert es dich vielleicht an irgendwelche Sünden in der Vergangenheit?«
»Quatsch.« Er sagte es so schnell, daß sich Muriels Lippen zu einem spöttischen Lächeln kräuselten.
Sie kannte ihren Bruder. Er hatte schon manchem auf die Füße getreten. Auf ihn traf das Sprichwort zu: Viel Feind - viel Ehr.
Beide hörten sie das Poltern. Sie hatten nicht gesehen, daß jemand die Barackentür aufgestoßen hatte. Die Person hastete durch das Vorzimmer und stand wenig später schweratmend im Chefbüro.
Es war der Lagerchef. Sein Gesicht zeigte eine hochrote Farbe, er atmete heftig und deutete auf das Fenster.
»Was ist los, Benson?« fuhr Conway ihn an.
»Sorry, Mr. Conway, aber ich mußte kommen.« Er holte ein paarmal Luft. »Draußen auf dem Hof.«
»Was war da?«
»Da ist eine Frau. Sie… sie zieht drei gläserne Särge hinter sich her…«
Die Worte des Abbé hatten uns geschockt. Beide aber glaubten wir ihm. Der Würfel besaß einfach die Kraft, dieses Sehen zu ermöglichen, auch wenn sich in seinem Innern keine Bilder abzeichneten, wie ich es schon erlebt hatte.
Außerdem hatte ich das Mädchen mit den drei gläsernen Särgen gesehen. Was braute sich da zusammen?
Wir mußten mehr Informationen bekommen. Nur das Mädchen mit den drei Särgen war einfach zu wenig. Ich störte den Abbé nicht gern, es mußte sein.
»Kannst du Einzelheiten erkennen?« fragte ich ihn leise und mit eindringlicher Stimme. »Wo befindet sie sich? Berichte uns etwas von dem Hintergrund, den du siehst.«
Das Rot in seinen Augen bekam eine gewisse Unruhe. »Ich,… ich versuche es. Ich strenge mich an, aber es ist schwer. Der Hintergrund besteht fast nur aus Schatten.«
»Dunklen oder hellen?«
»Ich sehe alles grau. Nur das Mädchen ist klar. Es besitzt goldene Haare. Wenn es geht, bewegen sich diese, dann funkeln sie sogar und leuchten. Reflexe
Weitere Kostenlose Bücher