0485 - Whisper - der Staubgeist
niemand. Weder ein Flüstern noch ein lautes Wort drang durch den Ort, der mittlerweile zu einer Geisterstadt geworden war.
Und der Wind war da. Er wehte jetzt nach Alcoste hinein. Wir spürten ihn im Gesicht, er wehte gegen unsere Kleidung, und wir hatten das Gefühl, als wollte er mit uns reden.
»Whisper ist bereits da!« sagte Janine Remi. »Er umstreift uns. Ich spüre ihn.« Sie schüttelte sich, als würde Eiswasser über ihren Rücken laufen.
Wir warteten noch.
Nachzügler kamen. Alte Männer und Frauen, die nicht so schnell laufen konnten und sich gegenseitig stützten.
An ihren grauen Gesichtern waren die Qualen abzulesen, die sie spürten… Die Augen wirkten stumpf, die Lippen waren verzerrt und lagen dicht aufeinander, so daß sie Striche zwischen all den Falten und Gräben des Gesichts bildeten.
»Ihnen wird es so ergehen wie meinem Urgroßvater«, sagte Janine leise. »Sie können es nicht überstehen, glaubt mir.«
»Sollen wir?« fragte Suko.
Ich war einverstanden.
Auch Janine hatte darauf gewartet. Sie wollte schon vorlaufen, aber ich hielt sie zurück. »Nicht so schnell, meine Liebe. Wir kommen noch früh genug.«
»Was wollen Sie dann tun?«
»Erst einmal abwarten.«
Langsam schlossen wir uns den Menschengruppen an. Mich störte auch nicht der ärgerliche Blick des Mädchens. Janines Reaktion war allzu verständlich. Mir wäre es wahrscheinlich nicht anders ergangen, hätte ich in dieser Stadt gelebt.
Wir schritten an den mitten auf der Straße geparkten Wagen vorbei und blieben stehen, als sich aus einer Seitenstraße ein Mann in dunkler Kleidung näherte.
»Das ist der Pfarrer!« hauchte Janine. »Gütiger Himmel, auch ihn hat es erwischt.«
Der Geistliche mußte die Worte gehört haben. Für einen Moment starrte er Janine an. Seine grau wirkende Haut zuckte über den Wangenknochen. Die Brauen über den Augen waren zusammengeschoben. Er wirkte sehr nachdenklich.
»Nicht ansprechen«, sagte ich zu Janine, als ich erkannte, daß sie entsprechende Anstalten traf.
»Weshalb nicht?«
»Entweder durchbricht er den Bann aus eigener Kraft oder nicht. Er steht vor einer Entscheidung.«
Der Geistliche entschied sich im nächsten Moment. Er setzte das rechte Bein vor und ging weiter. Nicht locker, sondern aufrecht, auch rein mechanisch.
Janine schüttelte den Kopf. »Wenn es schon der Pfarrer nicht schafft, wer dann?«
Wir enthielten uns einer Antwort und folgten dem Geistlichen, der sich ebenfalls zur Sammelstelle begab.
Dort standen die Menschen. Niemand bewegte sich. Die Leute glichen Puppen, ob es sich um Frauen, Männer oder Kinder handelte.
Wenn wir sie anschauten und dabei genau in die Gesichter sahen, erkannten wir auch die Leere darin. Sie starrten zu Boden oder einfach in die Ferne, als würden sie dort Bilder sehen, die allein für ihre Augen bestimmt waren.
Auch wir waren stehengeblieben und schauten uns die Szenerie an. Bäume wuchsen in der Nähe. Obwohl sie das frische Grün des Frühlings trugen, kamen sie mir grau, staubig und fast wie tot vor.
Ich dachte wieder an mein Kreuz und hätte gern gewußt, wo es geblieben war. Sollten wir diesen Fall überstehen, würde ich mich anschließend auf die Suche machen müssen. Wer wußte schon, wo Whisper es hingeschleudert hatte? Der konnte bereits in anderen Welten gelandet sein.
Wir schauten auf den Rücken des Pfarrers. Der Mann schaute in den grauen Himmel.
Aus ihm würde das Grauen niederfallen. Irgendwo in dieser Unendlichkeit hielt sich Whisper verborgen.
Der Wind nahm zu. Wir spürten ihn auf der Haut, und auch die Menschen wußten Bescheid. Unruhe breitete sich zwischen ihnen aus.
»Whisper ist da!« sagte Janine. Sie hielt die Arme halb erhoben und die Handflächen nach außen gedrückt. »Er weht dagegen. Spürt ihr es auch?«
Wir nickten ihr zu.
»Dann wird er auch erscheinen. Nein, er ist schon da.« Sie hob die Schultern hoch. Auf ihrem Gesicht zeichnete sich ein Gefühl der Anspannung und Furcht ab.
Auch wir dachten darüber nach, ob wir diesmal so glimpflich davonkamen wie auf der Herfahrt.
Whisper hielt den kleinen Ort umfangen und kontrollierte ihn. Er konnte mit ihm spielen, er lauerte überall, er war in jeder Ecke, steckte in den Winkeln, schwebte über dem Ort und wehte wie ein breiter unsichtbarer Streifen hinein.
Geräuschvoll machte er sich bemerkbar.
Wir hörten ihn säuseln und jaulen. Manchmal erinnerte es uns an das Schreien einer kleinen Katze, wenn er um die Ecken der Häuser fuhr
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