0486 - Der unheimliche Shaolin
Kraft geben, aber auch ihre Fähigkeiten auf dich übertragen. So kannst du mit ihr töten und gleichzeitig heilen. Hüte sie wie deine Augäpfel, denn sie sind etwas Besonderes und Außergewöhnliches. Wenn dich der Tod ereilt, mußt du schon vorher jemand bestimmt haben, an den du sie weitergibst. Das mußt du mir versprechen, und du darfst dieses Versprechen, das einem zweiten Schwur gleicht, niemals brechen. Hast du verstanden?«
»Ja!«
»Dann schau in die Höhe!«
Lin Cho hob seinen Kopf an und schaute in die von zuckendem, grünen Licht erfüllte Leere, ohne den Drachengott zu sehen, aber er bekam dessen Gabe.
Die Waffen!
Wirklich Waffen! Konnte man das, was aus der Höhe gefallen war, tatsächlich als solche bezeichnen? Er hatte von Dingen gesprochen, die über die Hände gestreift werden konnten, das war in der Tat der Fall, denn vor ihm lagen Handschuhe.
Schwarze, dünne Handschuhe, die auf ihren Außenseiten das Zeichen des Drachen besaßen. Zwei rote Kreise liefen außen herum. Im Innern der Kreise war jeweils das Abbild des Drachen zu erkennen. Die Riesenechse mit ihrem langen, peitschenartigen Schwanz, der über dem Rücken des Tieres lag und bis zum Kopf reichte, dessen Maul weit offenstand, als würde er jeden Augenblick damit beginnen, Feuer zu speien.
Lin Cho wagte nicht, die Handschuhe anzufassen. Sie sollten ihm körperliche und gleichzeitig heilende Kräfte geben, wenn er sie überstreifte.
Momentan zögerte er noch. Er mußte sich erst selbst überwinden, um mit zitternden Fingern nach dem ersten Handschuh zu fassen. Das Material war sehr dünn, es erinnerte an weiches Leder, aber es fühlte sich gut an.
Sehr vorsichtig streifte er den rechten Handschuh über. Er besaß keine »Finger«, die blieben frei.
Auch den linken Handschuh zog der Shaolin über. Er sah, daß die beiden Drachenzeichen auf seinen Handrücken lagen und nach außen zeigten. So mußte es auch sein.
Lin Cho sagte nichts mehr, er horchte in sein Inneres hinein, wo sich etwas verändert hatte.
Durch seinen Körper rann ein Strom. Irgendwo in der Tiefe seiner Seele geboren, stieg er in die Höhe und verteilte sich. Er gab ihm Kraft und gleichzeitig das Wissen, es schaffen zu können. Ja, er würde gegen die Feinde angehen, und vielleicht war er sogar noch stärker als damals, wo er sich auf seine Schwerter verlassen hatte.
Beide Waffen waren nicht miteinander zu vergleichen. Die Schwerter konnten töten, doch die Handschuhe heilten auch.
Er stand auf.
Sehr bewußt, fast gemächlich. Dann verbeugte er sich in die vier Himmelsrichtungen und sprach dankende Worte in die Tiefe der Drachendimension hinein. Eine Antwort bekam er nicht, das Feuer schwächte sich ab, und das weite Dunkel veränderte sich wieder.
Es schrumpfte zusammen, nahm andere Umrisse ein, die für den Shaolin nicht zu sehen, aber zu spüren waren. Die Normalität dieser Höhle kehrte zurück.
Noch einmal dröhnte die Stimme des unsichtbar gebliebenen Drachengottes auf. Sie sprühte aus der letzten grünen Feuerflamme, bevor diese sich in die endlose Tiefe einer fremden Dimension zurückzog. »Denke daran, Lin Cho, du kannst heilen und kämpfen. Aber das Heilen könnte wichtiger werden…«
Er hatte die Worte des Drachengotts genau verstanden und prägte sie sich ein.
Noch saß er unbeweglich, aber er hatte nicht mehr das Gefühl des Verlorenseins. Die Fackel neben ihm loderte hoch, als hätte man ihr frische Luft zugeführt. Ihr Licht erreichte wieder die dunklen Wände und strich über Vorsprünge, Felsnasen, wobei es auch in die Spalten und Risse hineinkroch.
Lin Cho erhob sich. War es tatsächlich gut gewesen, dem Drachengott einen Besuch abzustatten?
Eine Verantwortung hatte er abgelegt, eine neue war ihm übertragen worden. Wobei sich die Frage stellte, welche Verantwortung sich als größere Last erweisen würde.
Er faßte nach der Fackel. Seine Finger umklammerten den Griff, ohne daß dieser von dem Handschuh berührt wurde. Lin Cho hielt das Licht hoch, damit es ihm den Weg leuchten konnte.
Und so machte er sich gedankenverloren auf den Rückweg.
Er stieg die steilen Stufen hoch.
Trittsicher fand er jedesmal Halt. Das Vertrauen in seine Kräfte war um mehr als das Doppelte gewachsen. Er würde sich noch in dieser dunklen Nacht auf den Weg machen und sich den Feinden entgegenstellen.
Mit seinen Kräften wollte er sie zurückschlagen. Ein Angriff auf das Kloster stand, wenn überhaupt, erst in der folgenden Nacht bevor. Bis dahin
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