0492 - Der Zug aus der Hölle
anderen Mitglieder des Oberhauses werden darüber recht erstaunt sein…
Saris schluckte. Natürlich würde er nicht bis zum Schluß durchhalten können. Das schaffte er schon körperlich nicht. Trotzdem drängte es ihn, noch einmal mitzuentscheiden - solange er noch dazu in der Lage war!
Und vielleicht würde in ein paar Jahren ein Stück seiner Erinnerungen wieder aufbrechen. Dann konnte er sich unmöglich an alle Ereignisse aus seinen früheren Existenzen erinnern. Dazu reichte die menschliche Gehirnkapazität trotz ihrer enormen, noch weitgehend unausgeloteten Größe einfach nicht aus. Deshalb tauchten nur einige wichtige Dinge immer wieder auf, zum Beispiel die Erinnerung an die Erbfolge selbst, an wichtige Geschehnisse aus dem letzten, vielleicht sogar dem vorletzten Leben. Aber allein der Selbstschutz verbot stärkere Erinnerungen.
Der Zug setzte sich mit einem leichten Ruck in Bewegung. Saris trat ans Fenster, wollte es öffnen, um Patricia noch einmal zuzuwinken. Aber die untere Scheibe ließ sich nicht hochschieben. Vermutlich klemmte sie. »Dann eben nicht«, brummte er und trat wieder auf den Gang hinaus. Er schloß die Abteiltür. Wenn jemand seine Koffer stehlen wollte, würde er nicht viel Freude daran haben - Saris pflegte keine Wertsachen mit sich zu führen, nicht einmal Schecks. Was er brauchte, war ein bißchen Kleingeld für die Taxifahrer; alles andere ging per Kreditkarte oder auf Rechnung. Ein Abgeordneter des Oberhaues, als der er sich jederzeit ausweisen konnte, war immer für einen Kredit gut…
Er schlenderte durch den Wagen, wechselte in den nächsten, in den die beiden Frauen und der ältere Mann gestiegen waren. Auf eine ganz eigentümliche Art kam ihm der Zug unwirklich vor, ohne daß er sagen konnte, woher dieses Empfinden rührte. Im Flugzeug hatte er dieses Gefühl nie gehabt, auch nicht in Vorortzügen oder den roten Stadtbussen Londons.
Der ältere Mann hatte ein Abteil für sich allein belegt und sah aus dem Fenster. Die Abteiltür war geschlossen. Saris schob sie einen schmalen Spaltweit auf. Der Mann wandte ihm den Kopf zu, stellte fest, daß er es nicht mit dem Schaffner zu tun hatte, und sah den Lord derart strafend an, daß Saris es vorzog, sich wortlos zu entfernen, nachdem er die verglaste Schiebetür wieder geschlossen hatte.
»Recht unkommunikativ«, murmelte er. »Und das soll ein Landsmann sein? — Vielleicht hätte ich ihm mit einer Flasche Whisky zuwinken sollen.«
Die beiden Frauen teilten sich ein anderes Abteil. Aber ihre Blicke verrieten, ohne daß sie auch nur ein Wort sagten, daß sie ebenfalls in Ruhe gelassen werden wollten. Derartiges Verhalten war für Highland-Bewohner absolut untypisçh, es paßte eher in die Großstadt. Saris fragte sich, was er davon halten sollte. Griff die Vereinsamung jetzt bereits auf diese Landstriche und ihrer Bewohner über? Noch dazu scheinbar völlig grundlos?
Er ging weiter, bis zum Ende des Zuges, aber die anderen Abteile waren alle leer. Der Zug bewegte sich mit gleichmäßiger Geschwindigkeit durch die abendliche Dunkelheit. Hin und wieder ruckte es leicht. Saris schlenderte zurück. Bis Glasgow hatte er noch viel Zeit.
Er dachte an Patricia. Seltsamerweise vermißte er sie jetzt schon. Sie und das Kind, das in ihr wuchs. Es war, als wäre eine Verbindung durchschnitten worden, und ein kalter Hauch umwehte den Lord.
Einmal glaubte er Modergeruch wahrzunehmen. Das war, kurz bevor er das Abteil der beiden Frauen wieder erreichte. Er stutzte, schnupperte eingehend, konnte aber nichts mehr feststellen.
Auch diesmal wollten sie von seiner Gesellschaft nichts wissen. Eine etwa sechzigjährige Dame recht altmodisch und dunkel gekleidet, und ihr gegenüber ein Teenager in der neuesten Mode. Großmutter und Enkelin? fragte Bryont sich und wunderte sich ein wenig über den sehr blassen Teint des jungen Mädchens. Die schlanke Schwarzhaarige in ihrem modischen, ebenfalls schwarzen Kostüm sah aus, als habe sie ihr ganzes Leben lang noch nicht einen einzigen bräunenden Sonnenstrahl gesehen. Die alte Dame dagegen besaß zwar ein bemerkenswert glattes Gesicht, schien sich dafür aber fast nur im Freien aufgehalten zu haben. Das paßt nicht zusammen - jemand in ihrem Alter und mit dieser Hauttönung mußte von Fältchen nur so übersät sein. Der Mann weiter vorn war eingenickt. Auch er war dunkel gekleidet, trug Handschuhe und war recht blaß im Gesicht. Aber das konnte natürlich auch an der Beleuchtung im Abteil liegen.
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