0494 - Fenrirs Wacht
gesehen.«
»Aber es gibt auch die Menschen, die sich in Wölfe verwandeln, Pierre. Das Phänomen der Tiermenschen beschränkt sich übrigens nicht nur auf Wölfe. In Indien sind es Wer-Tiger. In Mittelamerika gibt es die Erzählung von Puma-Menschen. Und der Kalif, der sich mit dem Zauberwort ›Mutabor‹ in einen Storch verwandeln konnte,, dürfte dir auch nicht ganz unbekannt sein.«
»Märchen…«
»Und Legende. Die Schlange im Paradies, die zu Eva sprach - könnte die nicht auch schon so ein verwandlungsfähiges Wesen gewesen sein? Mit ihrem normalen Stimmorgan, oder wie immer man es auch bei Reptilien nennen mag, bringt sie nämlich allenfalls ein Zischen zustande, aber keine artikulierten Worte. Nein, Pierre, du hast dich vorhin ebensowenig lächerlich gemacht wie ich, nur ist es ein altbekanntes Phänomen, daß man in unserer modernen, aufgeklärten Zeit an die alten Wesen einfach nicht mehr glauben will. Deshalb sind die dunklen Mächte ja auch so unglaublich stark geworden in den letzten Jahrzehnten! Weil sie niemand mehr ernst nimmt, können sie sich fast ungehindert ausbreiten.«
»Na schön. Was können wir jetzt aber tun? Ich kann und will mich nicht mit dem Gedanken abfinden, einen Menschen nur deshalb umbringen zu müssen, weil er mit einem sogenannten Keim infiziert ist! Bei Pais ist das vielleicht eine andere Sache, aber dieser Pathologe…«
»Es gibt vielleicht eine Möglichkeit, ihm zu helfen. Zamorra könnte das. Mit Weißer Magie kann er versuchen, diesen Keim abzutöten, ehe er aktiv wird, ehe die ›Inkubationszeit‹ vorüber ist. Es gibt bestimmte Substanzen und Zaubersprüche, die da ein bißchen nachhelfen. Das Problem ist nur: wie schaffen wir das, während der Mann auf der Intensivstation liegt und von den Schwestern und Ärzten strenger bewacht wird als der Goldschatz in Fort Knox?«
Robin zuckte hilflos mit den Schultern. »Frag mich was Leichteres. Ich habe gelernt, wie man Verbrecher überlistet, aber nicht so etwas. Außerdem liegt mir Roland schwer im Magen. Ein Toter, der aufspringt, davonläuft und so ganz nebenbei auch noch zwei Menschen fast umbringt… Himmel, ich mag mir gar nicht vorstellen, was dieser Killer alles anrichten kann, solange ihn niemand erwischt. Die Fahndung läuft zwar, aber wie soll man ihn festhalten, wenn er entdeckt wird?«
Jetzt war es Nicole, die mit den Schultern zuckte. »Hoffen wir, daß er kein allzu großes Unheil anrichtet. Warte mal… hier gibt’s doch Telefon!«
»Was hast du vor?«
»Telefonieren!« stieß sie hervor und fragte sich, warum sie nicht schon vorher daran gedacht hatte. Immerhin hatte Robin die Fahndung nach Roland Pais ja auch telefonisch angeleiert!
Sie hätte auch das Autotelefon oder das im Wagen eingebaute Transfunk-
Gerät benutzen können. Aber dazu hätte sie erst eine enorme Strecke bis zum Parkplatz laufen müssen. Doch nachdem ihr endlich die richtige Idee gekommen war, wollte sie keine Sekunde mehr verlieren als unbedingt nötig. Sie telefonierte mit Château Montagne!
***
Naomi Varese starrte vor sich hin. Sie hocke am Tisch, vorgebeugt und das Kinn auf die Hände gestützt. Daß es draußen bereits dunkel geworden war, registrierte die rothaarige Frau nicht einmal, auch nicht die Kälte des beginnenden Abends, die von draußen hereindrang. Der Unheimliche war wieder gegangen, und er hatte die Tür offengelassen.
Ich möchte dir etwas schenken.
Diese Worte hatten sich in ihr festgebrannt und ließen sie nicht mehr los. Ich möchte dir etwas schenken.
Sie hatte kein Geschenk gewollt. Nicht von ihm, dem Unheimlichen. Er hatte es trotzdem getan.
Sie wußte es.
Aber sie wußte nicht, was er ihr geschenkt hatte. Darüber hatte er nicht zu ihr gesprochen. Wortlos war er dicht an sie heran getreten, und ebenso wortlos hatte er mit drei Fingern seiner linken Hand ihre Stirn berührt.
An mehr konnte sie sich nicht erinnern. Als sie wieder erwachte, saß sie an ihrem Tisch, vor dem benutzten Geschirr, das immer noch nicht abgeräumt war, und der Unheimliche, der meneur des loups, stand an der Tür und sah sie an. Zum ersten Mal sah sie ihn lächeln.
»Mein Geschenk wird in dir wirken, solange es mich gibt«, hatte er gesagt und sich dann entfernt, um die Haustür weit offen zu lassen.
Naomi hatte es nicht fertiggebracht, sich von ihrem Stuhl zu erheben und die Tür zu schließen. Ihre Gedanken kreisten im Leerlauf, kamen zu keinem Ergebnis. Sie wußte nicht einmal, was sie dachte.
Das Feuer verlosch
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