05 - Der Kardinal im Kreml
gekleidet, teils wie Arbeiter. Letztere bedienten die parallel zur elektrischen Steuerung des gesamten U-Bahn-Systems eingebauten «schwarzen» Telefonverbindungen. Der Vernehmungsbeamte und sein Gefangener fuhren in Zügen der lila und grünen Linie hin und her und hielten nach einer jüngeren Frau Ausschau, die einen Mantel aus dem Westen trug. Obwohl die U-Bahn täglich von Millionen benutzt wurde, empfanden die Abwehroffiziere Zuversicht. Die Zeit arbeitete für sie, und sie hatten das Psychogramm der Zielperson: Abenteurerin. Vermutlich hatte sie nicht die Disziplin, ihre tägliche Routine von ihren verdeckten Aktivitäten zu trennen. Wie ihre Kollegen überall auf der Welt waren die sowjetischen Geheimdienstleute fest davon überzeugt, daß jemand, der gegen sein eigenes Land spionierte, mit einem fundamentalen Makel behaftet sein mußte. Solche Verräter würden trotz ihrer Gerissenheit letzten Endes zu ihrer eigenen Vernichtung beitragen.
Und zumindest in diesem Falle hatten sie recht. Swetlana trat mit einem kleinen braunen Paket in der Hand auf den Bahnsteig. Der Kurier erkannte sie zuerst an ihrem Haar und wollte auf sie zeigen, doch seine Hand wurde heruntergerissen. Sie drehte sich um, und der KGB-Offizier bekam ihr Gesicht zu sehen.
Er sprach in ein kleines Funkgerät, und als die Frau in den nächsten Zug stieg, bekam sie Gesellschaft. Der Mann vom Zweiten Direktorat, der hinter ihr in den Wagen trat, trug einen Ohrhörer, der sich kaum von einem Hörgerät unterschied. Im Bahnhof alarmierten Männer über die Telefonverbindung Agenten in allen Stationen. Als sie ausstieg, war ein volles Beschattungsteam bereit und folgte ihr über die lange Rolltreppe auf die Straße. Dort stand ein Wagen, und weitere Agenten begannen mit der Observation. Mindestens zwei Männer hielten visuellen Kontakt mit der Zielperson, und immer mehr nahmen an der Verfolgung teil, bis das GOSPLAN-Gebäude im Marx-Prospekt erreicht war. Sie wußte nicht, daß sie verfolgt wurde, und unterließ auch jeden Versuch, sich nach Beschattern umzusehen. Binnen einer halben Stunde waren zwanzig Fotos entwickelt und dem Festgenommenen gezeigt worden, der sie eindeutig identifizierte.
Anschließend ging man behutsamer vor. Ein Wächter vom GOSPLAN-Haus gab ihren Namen einem KGB-Offizier, der ihm einschärfte, keinen Ton verlauten zu lassen. Mit Hilfe des Namens stand um die Mittagszeit ihre Identität fest, und der Vernehmungsbeamte, der nun den gesamten Fall übernommen hatte, erkannte entsetzt, daß Swetlana Wanejewa die Tochter eines ZK-Mitglieds war. Die Familie eines ZKMannes tastete man nicht leichtfertig an, aber die Frau war eindeutig identifiziert worden, und es handelte sich um einen sehr ernsten Fall. Watutin besprach sich mit dem Leiter seines Direktorats.
Der nächste Schritt war heikel. Das KGB, das im Westen als allmächtig gilt, hat schon immer dem Parteiapparat unterstanden; selbst das KGB brauchte erst eine Genehmigung, wenn es um ein Mitglied der Familie eines so mächtigen Funktionärs ging. Der Leiter des Zweiten Direktorats begab sich nach oben zum Vorsitzenden des KGB. Dreißig Minuten später kehrte er zurück.
«Sie können sie festnehmen lassen.»
«Der Sekretär des ZK -»
«Wurde nicht informiert», versetzte der General.
«Aber -»
«Hier ist der Befehl.» Watutin ergriff den mit der Hand ausgefüllten
und vom Vorsitzenden persönlich unterzeichneten Bogen.
«Genossin Wanejewa?»
Sie schaute auf und sah einen Mann, der sie merkwürdig anstarrte. «Was kann ich für Sie tun?»
«Ich bin Hauptmann Klementi Wladimirowitsch Watutin von der Miliz und möchte Sie bitten, mit mir zu kommen.» Der Vernehmungsbeamte achtete scharf auf eine Reaktion, doch die blieb aus.
«Und zu welchem Zweck?» fragte sie.
«Möglicherweise können Sie uns bei der Identifizierung einer Person behilflich sein. Weitere Auskünfte darf ich hier nicht geben», fügte der Mann verständnisheischend hinzu.
«Wird das lange dauern?»
«Wahrscheinlich ein paar Stunden. Wir lassen Sie dann nach Hause fahren.»
«Na gut. Ich habe im Augenblick nichts Dringendes auf dem Schreibtisch.» Sie erhob sich ohne ein weiteres Wort. Der Blick, mit dem sie Watutin bedachte, verriet ein gewisses Gefühl der Überlegenheit. Die Bürger brachten der Moskauer Miliz keinen übermäßigen Respekt entgegen, und die Tatsache, daß ein Mann seines Alters nur Hauptmann war, verriet ihr allerhand über seine Karriere. Innerhalb einer Minute war sie in ihren
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