05 - Spiel der Intrigen
klein waren.
Mit dieser Dummheit stand er nicht allein. Kleine Füße galten als vornehm, und
es gab zahlreiche verbogene und verdrehte Zehen und Senkfüße, die Zeugnis davon
ablegten, dass in London erstaunlich viele Leute bereit waren, im Namen der
Eitelkeit zu leiden. Aber es war der Anblick von Luke, der lässig über das
Geländer der Außentreppe von Nummer 67 hing und mit Lizzie sprach, der Joseph veranlasst
hatte, zu stöhnen.
Luke sah sie näher kommen, sagte
etwas zu Lizzie und flog wie der Blitz die Außentreppe von Nummer 65 hinunter.
Emily sah das Buch jetzt neben der
Treppe liegen.
»Kann ich dein Buch ausleihen?«
fragte sie Lizzie, als sie bei ihr angekommen waren.
»Natürlich, Madam«, sagte Lizzie und
machte einen Knicks. »Es ist in Wirklichkeit nicht mein Buch, weil wir uns
zusammentun, wenn wir alle ein neues Buch lesen wollen. Meistens kaufen wir
sie gebraucht.«
Sie übergab Emily das Buch. Emily
murmelte »Danke« und raste an Rainbird, der die Tür aufhielt, vorbei. Sie ging
schnell nach oben, das Buch an sich gedrückt. Rainbird schaute ihr überrascht
nach. Es war sonst gar nicht die Art von Miss Emily, ohne ein Lächeln oder ein
»Guten Tag« einfach vorbeizulaufen.
Emily riss sich den Hut vom Kopf,
setzte sich in einen Sessel am Fenster und begann zu lesen.
Das Stubenmädchen in dem Buch,
Emilia, hatte dunkelbraune Haare und blaugraue Augen, genau wie Emily. Sie wurde
bei dem Diebstahl der Juwelen ihrer Herrin vom Butler begünstigt — »einem Mann,
dessen finsteres, verzerrtes Gesicht seinen gemeinen Charakter preisgab«. Mit
schwindender Hoffnung las sie weiter. Nach der Ansicht des Autors verriet sich
ein Mitglied der dienenden Klasse zwangsläufig. Niedere Herkunft und
gewöhnliches Blut stellten einen Hochstapler immer bloß. Nicht nur diese Emilia
wurde als schönes Mädchen mit dem Herzen eines raffinierten Luders dargestellt,
sondern alle Diener in dem Buch wurden als raffgierige, sich das Maul zerreißende
Ungeheuer geschildert. Die Tatsache, dass der Autor ebenso erbarmungslos mit
dem scheinheiligen Gehabe und der Doppelmoral der Gesellschaft umsprang,
entging Emilys entsetzten Augen. Auch Emilias sinnliches, leidenschaftliches
Naturell diente dem Verfasser des Romans als Beweis für ihre niedere Herkunft.
Der Autor schien anzunehmen, dass Ladys keine fleischlichen Lüste verspüren.
Emily fühlte sich jedoch von
Leidenschaft bewegt. Ihre romantischen Sehnsüchte und manchmal schockierenden Träume
erschienen ihr jetzt als Beweis für ihr durch und durch undamenhaftes Wesen.
Damen, so schien es ihr, heirateten, um das Vermögen des Mannes zu vergrößern
und seine Kinder auszutragen. Frauen, die ihren Leidenschaften ausgeliefert waren,
gehörten zu den niederen Ständen oder sogar zur Halbwelt.
Rainbird klopfte von Zeit zu Zeit an
die Tür und meldete, dass dieser oder jener Herr unten warte, um seine
Aufwartung zu
machen, aber Emily antwortete jedes
Mal, dass sie Kopfschmerzen habe. Sie wollte das Zimmer erst wieder verlassen,
wenn sie das Buch gründlich gelesen hatte.
Der Roman war ziemlich kurz und
bestand nur aus einem Band, im Gegensatz zu den meisten Romanen, die mindestens
dreibändig waren, aber Emily las ihn langsam und sorgfältig.
Als sie das Buch zuklappte, war sie
überzeugt, dass es jemanden gab, der über sie und Mr. Goodenough Bescheid wusste.
Sie
trat ans Fenster, als ob sie
befürchtete, dass jemand mit höhnischem Gesicht das Haus beobachtete.
Sie fragte sich, ob sie Mr.
Goodenough das Buch bringen sollte, und entschied sich dann dagegen. Sie musste
die Last dieser Sorge alleine tragen. Mr. Goodenough war nicht stark. Seit
seinem Schlaganfall ermüdete er schnell.
Sie hatte das Gefühl, als ob die spöttischen
Augen des Earl of Fleetwood wieder auf ihr ruhten. Die Herren, die sie besuchten,
verehrten sie aufrichtig, nur der Earl hatte sie angeschaut, als ob etwas an
ihr ihn sehr amüsierte.
Und er hatte ihr keinen Besuch mehr
gemacht!
Auf einmal wollte Emily ihn
wiedersehen, sich überzeugen, dass es in London keinen gab, der sie durchschaut
hatte, und dass
das Buch über ein ehemaliges
Stubenmädchen, das sich als Lady in die Londoner Gesellschaft eingeschlichen
hatte, nichts mit ihr zu tun hatte. Aber wie sollte sie ihn wiedersehen? Wenn
sie weiterhin zu all den Veranstaltungen und Festen ging, zu denen sie
eingeladen war, würde sie ihm natürlich irgendwann begegnen, aber sie war so
unruhig, dass sie nicht warten konnte.
Der Earl
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