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entriss ihr den Hörer. „Hi, Mom, das passt mir jetzt gerade so gar nicht ..."
„Dein Großvater", sagte meine Mutter mit der klagenden Stimme, die sie für die Ankündigung von Begräbnissen reserviert hatte, „ist entkommen."
„Entkommen? Wo? Mom? Er hat drei verschiedene Sorten Krebs, er ist neunundachtzig Jahre alt und an vierzig verschiedene Maschinen angeschlossen. Was redest du denn da? Entkommen?"
„Da kommt jemand die Auffahrt hinauf, sagte Tina mit gesenkter Stimme.
„Nun, dann geh und kümmere dich darum."
„Und wenn man Euch sprechen will, Majestät?"
Ich legte eine Hand über die Sprechmuschel. „Lies mir von meinen königlichen Lippen ab, Tina: Jetzt nicht."
„Was?", fragte meine Mutter.
„Ich habe nicht dich gemeint, Mom. Ich bin nur ein wenig abgelenkt, weil es mir jetzt gerade schlecht passt."
„Tja, warum bist du dann ans Telefon gegangen?", fragte meine Mutter vernünftig. „Lass es einfach klingeln."
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„Grrr! Erzähl mir von Opa, bitte."
„Na ja, du weißt, dass er sich in diesem Pflegeheim nicht wirklich wohlfühlt."
„Ja, das weiß ich. Das ist nicht neu. Der Mann ist schwer krank. Und ehrlich gesagt, das Pflegeheim amüsiert sich bestimmt auch nicht besonders bei seiner Betreuung."
„Das ist wahr", antwortete meine Mutter prompt. Immerhin war sie von besagtem Herrn großgezogen worden. „Wie dem auch sei, er fühlt sich dort nicht wohl. Und die Tiere findet er noch nicht mal am schlimmsten."
Ich musste lachen. Die Tiere! Anscheinend hatten irgendwelche Studien gezeigt, dass Katzen, Hunde und Vögel beruhigend und heilsam auf Pflegeheiminsassen, äh .. -bewohner wirkten.
Also nahm Großvaters Pflegeheim ganz viele Streuner auf und sagte den neuen Bewohnern: Aber natürlich dürfen Sie Ihren bösartigen, inkontinenten, bissigen Hund Nibbles behalten! Null Problemo! Bringen Sie auch al e seine Brüder und Schwestern mit! Damit die anderen Bewohner auch was davon haben!
Auf dem Papier ist das eine bombige Idee. Aber der Schlaukopf, der die Studie durchgeführt hatte, hatte eines nicht bedacht: meinen Großvater Joe.
Vielleicht hatten nur nette, leise sprechende alte Damen und Herren an der Studie teilgenommen.
Mein Großvater war auf einer Farm aufgewachsen und hatte eine sehr pragmatische Einstellung zu Tieren: Wenn ich dich am Ende nicht töten und essen kann, dann brauchst du nur unnötig Platz. Als sie klein war, besaß meine Mutter nie ein Haustier -noch nicht einmal einen Goldfisch im Glas. Ich übrigens auch nicht, bis ich nach dem College von zu Hause ausgezogen war und meine Katze Giselle aus dem Tierheim geholt hatte.
Jedenfalls hatten die Tiere dann das Pflegeheim mehr oder weniger übernommen. Sie hatten freien Zugang zu allen Räumen 82
und nutzten das skrupellos aus. Und mit Sicherheit munterten sie das Personal auf. Oh, wie süß, die Katze hilft dem Mann mit der unheilbaren Krankheit!
Jetzt musste also mein Großvater, der eigentlich seinen Lebensabend genießen sollte, einen schnarchenden Golden Retriever aus seinem Bett schmeißen, wenn er nach dem Mittagessen ein Schläfchen machen wollte.
„Na ja, er hat es einfach nicht mehr ausgehalten", sagte meine Mutter gerade.
„Also hat er alle Schläuche abgemacht. ."
„Äh . . Sollten dann nicht irgendwelche Sirenen losgehen?"
„Liebes, du weißt doch, wie unterbesetzt sie sind. Und Großvater hat sie in falscher Sicherheit gewiegt, indem er vorher schon öfter die Maschinen abgestellt hat."
„Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. .", brummte ich. Der wütende, schwerkranke Tierhasser, der lügt, um seine Bewacher auszutricksen. „Nur dass er nicht nur einmal gelogen hat."
„Richtig. Also dachte sich keiner etwas dabei, als der Alarm wieder losging.
Sie dachten, Joe würde mal wieder Blödsinn machen. Dann ist er in seinen Rollstuhl gestiegen und .. "
„Schafft er den Transfer jetzt alleine?" Ich kannte den Fachjargon von einem kurzen, aber denkwürdigen Praktikum in demselben Heim.
„Ja. Also stieg er in seinen Rollstuhl und . . du weißt schon .. ist abgehauen."
„Ist einfach am Grenzposten vorbeigerollt, was?"
„Genau. Ich kann es mir bildlich vorstellen: Oh, schau nur, dieser niedliche alte Mann kommt raus, um die Welt zu sehen."
„Idioten", urteilte ich.
„Ja, aber das haben sie nicht ahnen können. Sie sind schließlich nicht mit ihm verwandt. Auf jeden Fall, weg ist er .. " „Er ist jetzt da draußen!"
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„Lass mich weitererzählen." „Draußen sind es
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