0512 - Der lachende Tod
ersten Vampirin?«
»Mythologie. Alles antiker Quatsch, an den vielleicht die Leute vor zweihundert Jahren noch geglaubt haben. Aber heute, in unserer modernen Zeit?«
Nun, überlegte Nicole, was modern betrifft, hatte es hier vor den erwähnten zweihundert Jahren garantiert nicht anders ausgesehen als heute. Nur daß es die fünf klapprigen Autos nicht gegeben hatte, sondern statt dessen Esels- und Maultierkarren.
»Kommen Sie, Nicola«, forderte Kosta sie auf und zog sie wieder ins Haus zurück. Die Wohnstube unten war direkt gemütlich eingerichtet. Sehnsucht nach ihrem spottbilligen Wohn-Loch erweckte sie in Nicole jedenfalls nicht. Momentan war Kosta allein hier; seine Eltern waren draußen auf dem Feld und kümmerten sich um Gemüse und Getier, so genau hatte Nicole das nicht verstanden - und auch lieber nicht verstehen wollen.
Kosta griff in ein Regal und zog ein voluminöses Buch heraus, das er auf den Tisch legte und aufschlug. Nur kurz blätterte er darin; die Seiten zeigten Fingerflecken. Offenbar hatte jemand - vielleicht Kosta selbst - hier vor kurzer Zeit schon einige Male nachgeschlagen.
»Hier, Nicola«, und Kosta zeigte demonstrativ auf die Bilder.
Er dachte nicht daran, ihr das Buch hinüberzuschieben, und Nicole dachte nicht daran, um den Tisch herum zu kreuzen, um sich dann, direkt neben ihm stehend, die Bilder anzusehen. Den Gefallen wollte sie ihm nicht tun. Sie griff zu und drehte sich das Buch zu.
Wenn Kosta ihr Manöver so durchschaut hatte wie sie seins, zeigte er es nicht. Sie betrachtete die Bilder.
»Blättern Sie weiter, Nicola…«
Die Fotos zeigten ikonengleiche Gemälde. Keine schnellen, billigen Produktionen mit dem »heißen Pinsel« für schnelles Geld, sondern Meisterwerke. Auch ohne sich in den vielen Details zu verlieren, begriff Nicole sofort, daß sich die Künstler sehr viel Mühe gegeben hatten. Mindestens fünf verschiedene Maler konnte sie an Pinselstrich und Bildaufbau unterscheiden, und diese fünf Maler mußten auch noch aus verschiedenen Epochen stammen, weil die Art ihrer Darstellung sich drastisch voneinander unterschied. Nicole war zwar keine Kunst-Expertin, aber wer mit Magie zu tun hatte, lernte auch Bilder kennen und konnte irgendwann bestimmte Stilrichtungen bestimmten Epochen zuschreiben.
Hier zog sich das Spektrum der Kunst über mehr als drei Jahrtausende, und zum Schluß der Bildergalerie gab es auch noch Fotos von Skulpturen. Diese steinernen Standbilder hatte Nicole zwar noch nirgendwo gesehen, weder in Kunstbildbänden noch in natura. Aber auch hier deutete der Stil, den die Steinmetze verwandten, auf eine Spanne von zumindest mehreren Jahrhunderten hin.
Als Bild und Standbild immer eine Frau… und die küßte Menschen, aber nie auf Mund, Wange oder Stirn, sondern in jeder Abbildung auf den Hals! Andere Bilder zeigten in Variationen einen Priester, der dieser Frau, die immer gleich gestaltet war, in einer Felsenhöhle eine Münze in den halb geöffneten Mund legte, und die dritte Serie von Bildern bestand in einer friedlich schlafenden Frau, in deren immer noch geöffnetem Mund eine Münze steckte.
»Nun, Nicole?« fragte Kosta.
»Die Lamia«, nickte Nicole. »Das ist sie doch, nicht wahr? Die Vampirin…«
Kosta grinste. »Ja. Aber nur auf alten Gemälden oder als Statue. Und jetzt glauben ein paar wildgewordene Zeitungsschreiber, ein Geschäft daraus machen zu können, indem sie uns allen Angst einzujagen versuchen. Die Lamia sei zurückgekehrt, jemand habe der Vampirin die Münze aus dem Mund genommen und sie damit wieder in die Welt der Lebenden zurückgeholt…«
»Und?« schoß Nicole ihre Frage ab. »Besteht die Möglichkeit, daß da etwas dran ist?«
Kosta winkte ab. »Phantasie, Nicola… die Lamia, diese Ur-Vampirin, ist doch ebenso eine Sagengestalt wie Zeus und die anderen olympischen Gottheiten oder wie Herakles oder Odysseus, zu dessen Mannschaft einer der Vorfahren unseres Ortsvorsteher gehört haben soll…«
»Und Sie glauben nicht daran, Kosta?«
»Halten Sie mich für ein Fossil?« entrüstete der Jüngling sich. »Nicola wieso interessieren Sie sich so sehr für ausgerechnet dieses Thema? Glauben denn etwa Sie an diesen Humbug? Diese närrischen Zeitungsschreiber wissen ja nicht einmal, wo die Lamia in ihrer Höhle ruht! Aber das ganze ist ja ohnehin Humbug, denn wenn sie da wirklich vor dem Übergang im Totenreich läge, hätte doch Fährmann Charon die Münze genommen und die tote Lamia über den Styx in den Hades
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