0516 - Im Netz der Mörderspinne
keinen Sinn, die Soldaten, die ihn verhörten, danach zu fragen. Dieser Lieutenant Laquas hatte deutlich gemacht, daß er sich nicht als Auskunftsbüro verstand, sondern Antworten von Zamorra wollte - die Wahrheit. So wie er sie sah, wie er sie sehen mußte. Zamorra verstand ihn. Was sollte man auch schon davon halten, wenn man in- einer Feuerpause mitten in der Frontlinie auf einen nackten Mann stieß? Es war gut, daß es wenigstens keine sprachlichen Probleme gab. Aber alles andere? Die Umstände waren doch höchst seltsam. Und selbst wenn Zamorra seinen Ausweis bei sich getragen hätte, hätte ihm das nicht weitergeholfen. Die Eintragungen darin mußten für die Menschen des Jahres 1916 nichts als ein übler, dummer Scherz sein. Daß es Sommer 1916 war, hatte Zamorra einer flüchtigen Unterhaltung zweier Soldaten entnommen, und auch, wo er sich befand - in einer Frontstellung bei Verdun.
Das reduzierte seine Überlebenschancen erheblich. Hier hatten die blutigsten und unmenschlichsten Kämpfe dieses unseligen Krieges stattgefunden, hier hatten beide Seiten eine irrwitzige Entscheidung gesucht und keine Opfer gescheut. Hier waren Schützengräben mit Giftgas und mit Flammenwerfern ausgeräuchert worden. Die Brutalität des Krieges an sich hatte eine neue Dimension gewonnen, die selbst der nur ein Vierteljahrhundert später tobende 2. Weltkrieg nur noch schwer hatte übertrumpfen können.
Der Kriegsschauplatz erklärte auch die unterschiedlichen Uniformen. Belgier und Franzosen hatten Seite an Seite gekämpft, und die Kompanieverluste waren ohne Rücksicht auf die jeweilige Nationalität aufgefüllt worden. Das hatte natürlich auch zu Rivalität und Reibereien geführt, weil viele französische Soldaten ihre belgischen Kameraden nicht so richtig ernst nahmen. Aber solange es gegen den gemeinsamen Feind ging, hielten sie zusammen wie Pech und Schwefel.
Und Zamorra war mittendrin, und nichts als seine akzentfreie Sprache wies ihn als Franzosen aus. Was nicht ausschloß, daß er ein bezahlter Spion der »Pickelhaubenträger« sein mochte, ein Verräter an der Grande Nation.
Die Wahrheit konnte Zamorra dem Lieutenant nicht sagen. Und alle anderen Geschichten waren zu leicht durchschaubar. So versuchte Zamorra sich auf Gedächtnisschwund herauszureden und behauptete, nicht einmal seinen Namen zu kennen. Denn wenn er sich als ein Montagne-Abkömmling zu erkennen gab, genügte eine Nachfrage, um ihn als Lügner zu entlarven - 1916 hatten sich seine Eltern noch nicht einmal gekannt, geschweige denn an seine Zeugung oder gar an einen Namen für ihn gedacht.
Deshalb war ein selbstverleugnender »Gedächtnisschwund« das Beste, was er sich einfallen lassen konnte. Er fragte sich, ob Nicole ebenso gewitzt agierte. Und er hoffte, daß Don Cristofero und der Gnom nicht auch gefangen waren. Beide würden natürlich schärfstens auffallen. Der eine wegen seines Aussehens, der andere wegen seines Aussehens und seines Benehmens. Cristofero hätte dem Lieutenant wahrscheinlich längst so viele Beleidigungen an den Kopf geworfen, daß der ihn der Einfachheit halber erschossen und »Spion, nach hartnäckigem Leugnen auf der Flucht erschossen« in seinen Bericht geschrieben hätte.
Zamorra ließ die Fragen an sich abgleiten. »Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht erinnern«, waren seine Antworten. Er verspürte Hunger und Durst. Die Helvetier hatten es nicht für nötig gehalten, ihre Gefangenen mit Essen und Trinken zu versorgen, und Lieutenant Laquas verschwendete auch keinen Gedanken daran.
Zamorra überlegte, wie er hier hinauskommen konnte. Es mußte erfahren, wo die anderen steckten - und mit ihnen zusammen wenigstens aus der Frontnähe verschwinden. Noch war es draußen dunkel. Aber spätestens im Morgengrauen würde der nächste Angriff erfolgen. Und wenn Zamorra etwas haßte, dann waren das seine Steuererklärung und ein tödlicher Überraschungsgegner, gegen den er nichts tun konnte. Zum Beispiel Giftgas, Flammenwerfer oder Mörsergranaten.
Daß der Gnom abermals im letzten Moment eine Zeitversetzung vornehmen würde, darauf wollte und konnte er nicht hoffen.
***
Roald d’Arcois hatte einen leichten Schlaf in diesen Tagen. Er hörte den Schrei seiner Tochter, aber er klang seltsam weit entfernt. Nicht wie aus dem nebenanliegenden Zimmer.
Er schnellte aus seinem Bett empor. Was immer man über diesen Mann denken mochte - zumindest eine positive Eigenschaft zeichnete ihn aus: die Sorge um seine Tochter. Auch wenn
Weitere Kostenlose Bücher