0519 - Schatten des Grauens
habe sie früher niemals besessen.«
»Das sind viele Fragen«, sagte Eysenbeiß-Salem. »Ich möchte versuchen, sie Ihnen zu beantworten, damit Sie wissen, wie Sie Ihre Fähigkeit am besten nutzen können.«
Er selbst hatte sie von einem anderen erworben. Leonardo deMontagne, der ehemalige Fürst der Finsternis, hatte seinen Schatten von sich lösen können und ihn ausgeschickt, um Geheimnisse auszuspionieren oder um ihn für sich handeln zu lassen. Einen Menschen zu entführen und zur Geisel zu machen, oder ihn auch einfach nur zu töten, war für den Dämon kein Problem gewesen. Dann aber war Leonardo deMontagne in Ungnade gefallen; ein Tribunal der Hölle hatte ihn des Verrats beschuldigt und hingerichtet - wie es zuvor auch schon Eysenbeiß ergangen war, dessen Geist nach dem Tod seines Körpers vorübergehend in Leonardo deMontagnes Amulett geschlüpft war. Als Leonardo getötet und sein Bewußtsein in die Tiefen des Oronthos geschleudert wurde, dorthin, von wo es selbst für Dämonen niemals mehr eine Rückkehr aus den Gefilden des Todes und der Vernichtung gab, da hatte das Eysenbeiß-Bewußtsein seinen Körper übernommen und, als niemand sich mehr um die achtlos fortgeworfene Körperhülle des Ex-Fürsten kümmerte, die Hölle heimlich verlassen.
Doch ein toter Körper verweste mit der Zeit; daran änderte auch ein noch lebendes Bewußtsein nichts. In der Folge hatte Eysenbeiß eine Odyssee durch unterschiedliche Wirtskörper durchführen müssen, war von einigen abgestoßen worden, andere waren gestorben - bis es ihm schließlich gelungen war, den Ewigen Yared Salem zu übernehmen und dessen Geist zu verdrängen. Seitdem hockte er als Dybbuk im Körper des Ewigen und hatte sich selbst zum Beherrscher über die DYNASTIE DER EWIGEN aufgeschwungen.
Aber auch wenn Leonardos Geist und Leonardos Körper längst und unwiderruflich vergangen waren - seine seltsame Fähigkeit war nicht mit ihm gestorben. Sie hatte noch am absterbenden Körper gehaftet, als Eysenbeiß die Kontrolle über diesen übernahm, und Eysenbeiß hatte sie sich angeeignet, weil er sehr rasch erkannte, welche Macht sie ihm verlieh. Mittlerweile beherrschte er seinen Schatten perfekt, und die Ewigen, die seine Untertanen waren, ahnten nicht einmal, auf welche Weise ihr ERHABENER erfuhr, was sie taten, planten und dachten, während sie glaubten, unbeobachtet zu sein. Auch jetzt, da Eysenbeiß sich für eine Weile wieder auf dem Planeten Erde aufhielt, sandte er seinen Schatten in regelmäßigen Abständen zu den Schaltzentralen der Macht, um seine Untergebenen zu kontrollieren. Er wußte immer, was in seinem Reich geschah.
Und hier hatte er jetzt ein Wesen gefunden, einen Menschen, der über die gleiche seltsame Fähigkeit verfügte. Ein Zufallstreffer, für den die Chancen geringer als eins zu einer Billiarde standen? Nie zuvor hatte jemand seinen Schatten eigenständig handeln lassen können, und bislang war Eysenbeiß sicher gewesen, daß Leonardo beziehungsweise nunmehr er selbst in dieser Art absolut einmalig waren. War es also vielleicht doch kein Zufall gewesen, daß er sie getroffen hatte. Hatte ihn etwas zu ihr hingezogen, eine Art Verwandtschaftsgefühl, das ihm gar nicht bewußt gewesen war, weil er nicht darauf geachtet hatte? Er lauschte in sich hinein und jetzt, wo er danach suchte, spürte er es.
Deshalb mußte er sich um die Frau kümmern, mußte sie für sich gewinnen und sie unter seine Kontrolle bekommen.
Das war sicher kein Problem. Er brauchte sie nur zu hypnotisieren, dann gehorchte sie allen seinen Befehlen, tat stets, was er von ihr erwartete. So würde sie zu seinem verlängerten Arm werden. Künftig konnte er dadurch praktisch nicht nur an zwei, sondern über den Umweg Francine Belo auch an drei Stellen gleichzeitig präsent sein. Aber zuvor mußte er ihr natürlich klar machen, wie sie ihren Schatten optimal steuern konnte. Er fühlte, daß sie Angst vor ihrer Fähigkeit hatte. Diese Angst mußte sie ablegen. Sie mußte ihr Können als etwas völlig Natürliches begreifen, so, wie es für andere Menschen natürlich war, Fußball oder Tennis zu spielen oder einen Computer zu bedienen.
»Diese wunderbare Gabe«, sagte er, »hat sicher schon lange in Ihnen geschlummert. Daß sie jetzt erst zum Vorschein kommt, muß einen tieferen Grund haben, doch danach zu forschen, ist nicht unbedingt wichtig. Wichtig ist es eher, daß Sie lernen, diese Gabe zu akzeptieren und sie zu beherrschen. Ahnen Sie überhaupt, welche
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