0529 - Der Würgeadler
zu. »Nein, aber wir können auch nicht einfach hier herumstehen und warten, bis etwas passiert. Vielleicht gelingt es uns, ihn zu stoppen.«
Grenier bekam große Augen. »Wissen Sie eigentlich, wie groß dieser verfluchte Adler ist?«
»Nicht genau«, sagte Suko.
»Größer als ein Haus. Das ist ein Riesenvogel. Der vereinigt alles Schreckliche in sich, das müssen Sie mir glauben. Er ist einfach gewaltig. Sie kommen gegen ihn nicht an. Sie sind im Gegensatz zu ihm nur winzige Zwerge.«
»Die sich auch wehren können«, sagte Suko.
»Aber nicht gegen den Vogel.«
Klar, daß Grenier uns warnen wollte. Das hatten viele Menschen getan, nur mußten wir einfach etwas tun. Wenn der Adler tatsächlich freikam und es ihm gelang, mit van Akkeren einen Pakt zu schließen, sahen wir alle böse aus. Deshalb mußten wir versuchen, die Ursache vorher aus der Welt zu schaffen.
Mein Blick glitt hoch zum Himmel. Er hatte sich verändert, war dunkler geworden, ohne daß die Dämmerung schon hereingebrochen wäre. Die Wolken wanderten wie langgestreckte Schatten heran und legten sich phantomgleich vor die Sonne, deren runde Scheibe immer weiter zurückgedrängt wurde.
»Nun?«
Ich nickte Grenier zu. »Unser Entschluß steht fest. Wir werden dem Adler einen Besuch abstatten. Wie kommen wir am besten auf diesen Hang? Was ist der schnellste Weg?«
»Ich werde mitgehen…«
»Nein, Sie bleiben hier!«
Ich hatte so scharf gesprochen, daß Grenier zusammenzuckte. »Ja, schon gut. Also hören Sie zu.«
Er erklärte uns den Weg. Es war ganz einfach, Grenier brauchte nichts zu wiederholen. Schon beim ersten Versuch merkten wir uns die Straße, die wir zu laufen hatten.
Suko war mein Starren gegen den Himmel aufgefallen. »Suchst du die Vögel?« fragte er.
Ich winkte ab. »Es ist klar, wo ich sie finden kann. Am Hang, sie scheinen die Vorboten oder Leibwächter des Würgeadlers zu sein.«
Ich trat Schnee von meinen Füßen. »Alles klar? Können wir gehen?«
»Immer.«
Soweit war es noch nicht. Eine Gestalt erschien plötzlich am Beginn der Schneise. Ein sehr alter Mann. Er kam mir vor, als wäre er in einen Sack eingehüllt, so ähnlich sah der Mantel aus. Der Mann hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Die Wollmütze auf seinem Kopf war verrutscht. Ein Ohr lag frei.
»Das ist Piccé!« rief Jacques erschreckt und lief dem Alten entgegen, um ihn zu stützen.
Piccé bewegte sich mit schlurfenden Schritten voran. Er bekam seine Beine nicht richtig hoch. Als er näherkam, konnten wir erkennen, daß es ihn erwischt hatte. Über dem Ohr befand sich eine Wunde, aus der ein Blutfaden sickerte.
Ich konnte mir vorstellen, daß er von den Vögeln ebenfalls angegriffen worden war.
Neben uns blieben die beiden stehen. Jacques nickte. »Es hat ihn erwischt. Die Vögel…«
»Wo war das?«
»Am Stall.«
»Bringen Sie ihn ins Haus«, sagte ich. Für uns wurde es Zeit, daß wir loszogen.
»Gut.« Grenier nickte. »Hoffentlich sehen wir uns später, hoffentlich.«
Ich lächelte knapp. »Wird schon schiefgehen.«
Den Satz hatte auch van Akkeren gehört. »Ja!« rief er, »es wird schon schiefgehen. Das kann ich mir vorstellen. Alles läuft bei euch schief, alles. Ihr werdet in die Klauen des Würgeadlers geraten. Er besitzt die Kraft, um mit seinem Schnabel das gesamte Dorf zerhacken können. Und seine Klauen sind so kräftig wie die Beine von Elefanten. Ihr werdet euch noch fürchten. Ihr bekommt es mit der Angst zu tun. Ich kann nur noch lachen…«
Suko beugte sich zur Scheibe hinab. »Wird er Sie verschonen?« fragte er.
»Immer! Er ist mein Verbündeter!« Van Akkeren freute sich wie ein kleines Kind.
Wir hatten keine Lust mehr, mit ihm zu diskutieren und machten uns auf den Weg…
***
Jacques Grenier hatte von einer Abkürzung gesprochen, die wir auch einschlugen. Über die Hauptstraße von Aigleville brauchten wir nur einige Meter zu gehen, wurden auch entdeckt und sahen die scheuen Blicke der Bewohner.
Vor einigen Häusern arbeiteten Menschen und räumten den gröbsten Schnee weg.
Kinder zogen ihre Schlitten über die weiße Fläche. Andere wiederum bewarfen sich mit Schneebällen.
Zwischen zwei Häusern fanden wir den schmalen Durchschlupf.
Hier war die weiße Pracht nicht weggeräumt worden. Wir stampften durch den Tiefschnee und dabei auch unter Eiszapfen hinweg, die wie helle Speere von den Dachrinnen der Häuser nach unten zeigten.
In den Wohnungen brannten die Feuer. Rauch stieg aus den Kaminen. Er quoll
Weitere Kostenlose Bücher