0529 - Der Würgeadler
ich ehrlich sein soll, so hat er die Ausmaße einer gewaltigen Adlerschwinge besessen.«
Paul Grenier starrte mich an. »War das alles?«
»Nein, nicht…«
Meine Worte waren in eine Stille hineingetropft, die auch jetzt noch anhielt. Ich sah die gespannten Blicke der Familienmitglieder auf mich gerichtet, und Suko nickte mir zu.
»Okay, ich will Ihnen die Wahrheit sagen. Es hat sowieso keinen Sinn, es zu verschweigen. Wir haben die Schwinge gesehen, aber nicht nur das, sie hat sich bewegt.«
Schweigen, entsetztes Schweigen sogar…
»Was hat sie?« ächzte Eliette nach einigen Sekunden und setzte sich dabei langsam auf einen Stuhl.
»Sie hat sich bewegt.«
Der Sohn sprach aus, was alle dachten. Pierre starrte dabei ins Kaminfeuer. »Dann ist es also eingetroffen, der Würgeadler ist mittlerweile erwacht.«
»Vieles deutet zumindest daraufhin«, präzisierte ich.
Die Greniers schwiegen wieder. Ich sah, wie sie schluckten, auch mir war nicht wohl zumute. Schon oft genug hatten wir es mit alten Flüchen und Voraussagen zu tun gehabt, die später in Erfüllung gegangen waren. Hier schien es nicht anders zu sein.
»Wie würde es denn weitergehen?« fragte Eliette leise und strich mit beiden Handflächen durch ihr Gesicht.
»Das ist eben die Frage«, sagte ich.
»Er wird den Berg verlassen!« rief Paul. »Daran gibt es nichts zu zweifeln. Er wird die gewaltige Schneelast mit aufbrechen und über uns kommen wie der Tod. Haben wir noch eine Chance?«
Die Mitglieder der Familie schüttelten die Köpfe. Dabei richteten sich ihre Blicke auf uns.
»Was meinst du, Suko?«
Mein Freund hob die Schultern. »Wahrscheinlich denkst du das gleiche wie ich.«
»Kann sein.«
»Und das wäre?« fragte Paul.
»Gib du die Antwort.« Suko nickte mir zu.
Ich wandte mich an die Familie Grenier. »Sie müssen sich den Fluch genau vor Augen halten. Wir alle wissen, daß er erst eintrifft, wenn zwei bestimmte Dinge zusammentreffen. So ist es doch, nicht wahr? Zweimal muß sich das Böse finden. Einmal war es latent hier vorhanden. Zum anderen haben wir es mitgebracht, in Form des Mannes, der bei uns im Wagen sitzt. Die beiden haben sich vereinigt, und da gibt es für uns nur eine Alternative. Wir müssen weg. Mein Kollege und ich müssen den Ort hier verlassen.«
Die Greniers dachten nach. Sie schauten sich dabei an. Ich las Zustimmung in ihren Blicken, andererseits fühlten sie sich unwohl, wenn sie mir zustimmten.
»Und Sie glauben, daß dies Erfolg haben wird?« fragte Paul leise.
»Ich gehe davon aus. Zumindest ist es eine Möglichkeit«, fügte ich noch hinzu.
»Ja, das wäre es tatsächlich!« Paul nickte und wandte sich an seinen Vater. »Was meinst du?«
Jacques Grenier spielte mit der Pfeife. »Ich kann dir keine genaue Auskunft geben, Sohn. Ich weiß es nicht. Natürlich kann Monsieur Sinclair recht behalten, braucht aber nicht. Ich denke eben nur daran, das wir den Schatten des Flügels ja schon vorher gesehen haben. Ihr versteht, was ich meine?«
»Vor der Ankunft?«
»Oui, Monsieur Sinclair, vor Ihrer Ankunft. Der Würgeadler ist vorhanden, er will auch raus. Wir haben den Flügelschatten zuvor niemals gesehen, das kam alles sehr plötzlich, und jetzt müssen wir damit rechnen, daß er trotzdem freikommt, auch wenn Sie uns verlassen haben. Oder besitzen Sie die Gabe, das Schicksal in andere Bahnen zu lenken?«
»Das leider nicht.«
»Genau. Deshalb gehe ich davon aus, daß der Würgeadler trotzdem erscheinen wird.«
Ich runzelte die Stirn. Die Überlegung war nicht so unübel. Wenn sich der Würgeadler einmal entschlossen hatte, zu erscheinen, dann würde er diesen Entschluß auch durchführen. Zudem war es fraglich, ob eine Flucht jetzt noch Sinn hatte. Ich sah trotzdem keine Alternative und erklärte dies auch.
»Wenn wir fliehen und der Würgeadler steigt tatsächlich aus dem Berg, kann es durchaus passieren, daß er Ihren Ort nicht angreift und sich an unsere Verfolgung macht. Denn bei uns ist genau der Mensch, auf dem es ihm ankommt. Er hat gespürt, daß van Akkeren einen Pakt mit der Hölle geschlossen hat, und die Schwarzblütler fühlen sich zu anderen Wesen, die ähnlich denken, stets hingezogen.«
»Gut gesprochen, wirklich, aber entspricht es auch den Tatsachen?«
»Das wird sich herausstellen.«
Ich warf Suko einen fragenden Blick zu. Mein Freund wußte auch keine bessere Lösung. »Wir sollten es versuchen, John.« Er nickte.
»Laß uns einfach fahren.«
Die Greniers fühlten sich
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