0529 - Der Würgeadler
sie.
»Jedenfalls ist er frei«, sagte Suko. »Und wir haben es nicht verhindern können.«
»Ja, leider.«
Diesmal schaute Suko zum Himmel. »Die Berge sind hoch und weit. Der kann sich trotz seiner Größe überall verstecken. In den Tälern, sogar in Schluchten.«
»Und van Akkeren wird sich freuen.« Ich klopfte mir bei dem Satz den Schnee und die letzten Eisklumpen von der Kleidung.
»Nicht mehr lange.«
»Willst du ihn dir packen?«
»Er kann uns vielleicht sagen, wo wir das Tierchen finden werden. Los, laß uns gehen!«
Ich hatte nichts dagegen. Diesmal nahmen wir den direkten Weg über die Hauptstraße des Dorfes. Die meisten Männer hatten sich mit Schaufeln und Spaten bewaffnet, um das Dorf zu »befreien«. Die Lawine hatte das Dorf vielleicht auf einer Breite von hundert Metern erwischt.
Uns schlug der Wind entgegen. Der Himmel hatte sich noch weiter verdunkelt. Kein Sonnenstrahl tupfte mehr gegen die weißen Flächen. Hoch im Hintergrund grüßten die Gletscher mit dem ewigen Eis. Der Adler konnte sich auch dort verborgen halten, woran ich aber nicht glaubte. Er würde bestimmt in der Nähe der Menschen bleiben, vor allen Dingen dort, wo sich sein Verbündeter van Akkeren aufhielt.
Sicherlich hatten auch die Greniers herausgefunden oder sogar gesehen, was geschehen war. Sie hatten es in ihrem Haus nicht mehr ausgehalten und waren auf die Straße gelaufen. Jetzt standen sie dort, wo der Weg zu ihrem Haus in die Hauptstraße mündete.
Und sie sahen uns.
»Da! Da sind sie!« schrie Pierre. »Sie leben noch!« Der Junge lief uns entgegen und wäre fast noch ausgerutscht. »Haben Sie die Lawine gesehen?« fragte er keuchend.
»Wir befanden uns sogar darin«, erklärte ich.
Pierre bekam große Augen. Er wollte noch mehr Fragen stellen, doch wir gaben ihm keine Antwort mehr.
Die restlichen Mitglieder der Familie Grenier starrten uns an, als hätten sie ein Wunder vor sich.
»Damit hat keiner von uns mehr gerechnet«, sagte Paul. Er drückte mir die Hand, als wäre ich ein alter Freund, den er lange nicht mehr gesehen hatte.
»Es war auch knapp«, gab ich zu, »und fast hätte es mich erwischt. Aber lassen wir das. Wichtig ist der Adler.«
»Er ist frei, nicht?«
Ich nickte.
»Wir haben es gesehen«, sagte Jacques Grenier. »Er stieg aus dem Hang. Ein gewaltiges Ungeheuer, ein Riesenvogel, mit Schwingen breit wie Straßen. Er flog davon, er bewegte sich auf die Gletscher zu…«
»Ist er auch dort gelandet?« fragte Suko.
»Das haben wir nicht sehen können.«
»Wir werden noch von ihm hören.«
»Hoffentlich nicht«, flüsterte Eliette.
Ich hatte mich von der Familie entfernt und ging auf den Renault zu, in dem Vincent van Akkeren wartete und mir gespannt entgegenschaute. In Höhe der hinteren Sitzbank bückte ich mich.
Van Akkeren lachte. »Er ist frei, nicht wahr?«
»Ja.«
»Ich habe es gesehen«, flüsterte der Grusel-Star. »Ich habe ihn gesehen, wie er davonflog. Es war ein herrliches Bild. Jetzt weiß ich auch, welch einen mächtigen Verbündeten ich habe. Oder glaubt ihr denn, daß einer hier im Ort gegen den Adler ankommen wird?«
»Ein Einheimischer bestimmt nicht.«
Van Akkeren merkte den Hintersinn meiner Antwort schnell. Er kicherte mich an. »Du etwa, Sinclair? Willst du diesen Riesenvogel stoppen? Nein, das schaffst du nicht. Wenn er zurückkommt«, erklärte van Akkeren flüsternd, und seine Augen glänzten dabei.
»Wenn er zurückkommt, wird er das Dorf zerstören und keinen Stein auf dem anderen lassen. Er wird alles dem Erdboden gleichmachen, und dabei ist es ihm egal, wie viele Menschen draufgehen. Das kann ich dir versprechen.«
»Fragt sich nur, van Akkeren, ob Sie dabei überleben?«
»Ich immer, denn der Adler ist mein Freund, mein Verbündeter. Er weiß genau, daß er nicht freigekommen wäre, hätte mich der Weg nicht in dieses Kaff geführt. Eigentlich müßte er euch sogar dankbar sein.« Als er den Satz sagte, lachte er dabei.
»Wenn er Ihr Freund ist, van Akkeren, können Sie mir sicherlich sagen, wo er sich befindet.«
Der Grusel-Star stierte mich an und zog dabei die Lippen auseinander. »Such ihn doch.«
»Sie wissen es also nicht?«
»Das hast du gesagt, Sinclair. Ich weiß nur, daß er in der Nähe bleiben wird.«
»Und dann?«
»Du kannst machen, was du willst, dem Adler entkommst du nicht mehr. Du bist gefangen, obwohl du dich frei bewegen kannst. Dir hilft auch keine Flucht.«
Van Akkeren hatte Spaß daran, mich zu provozieren. Ich
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