053 - Der Gast aus dem Totenreich
Improvisationen des Paganini übergegangen, auf das Konzert in D-Dur, Opus 6.
Niemand beachtete Dorian, der die gnostische Gemme hob und sie wie ein Pendel vor Caterinas Gesicht hielt. Die Augen des Mädchens konzentrierten sich jetzt auf den Edelstein. Dorian bewegte nur ganz sanft die Finger, und das Pendel begann zu schwingen.
»Du gehst nicht«, raunte er ihr ins linke Ohr. »Du darfst nicht in den Keller gehen. Du musst mir gehorchen, Caterina. Ich befehle es dir.«
»Ja«, hauchte sie.
Dorian hatte erwartet, dass sich einzelne Gäste umdrehen würden, aber niemand regte sich. Alle guckten unverwandt auf den Maestro, dessen Spiel sich zur Ekstase steigerte.
»Verlasse die Villa und warte im Wagen auf mich!«, flüsterte Dorian dem blonden Mädchen zu.
Sie nickte. Gehorsam stand sie auf und wandte sich der Verbindungstür zu. Sie wandelte aus dem Saal und verschwand im dunklen Musikzimmer.
Dorian steckte die gnostische Gemme wieder weg. Er war sicher, dass Caterina sich strikt an den Befehl halten würde. Vorsichtig blickte er in die Runde.
Die Gäste starrten mit halb geöffneten Mündern auf Bertini oder das, was den Maestro dort vorn auf dem hockerähnlichen Stuhl darstellte. Sie waren besessen, hatten sich nicht mehr in der Gewalt. Auch der Gnom und der unheimliche Hutträger wirkten verzaubert.
Dorian spürte, wie die starke magische Ausstrahlung auf ihn zuschwebte. Er schloss die Augen, konzentrierte sich; er wollte die gnostische Gemme wieder hervorholen, aber plötzlich war es mächtiger als er.
Er öffnete die Augen und blickte auf die Einladungskarte hinab. Mit einem Mal hatte er sie in Händen. Er konnte in keine andere Richtung schauen, war von dem Büttenpapier gefesselt. Unvermittelt leuchteten Farben auf dem Papier. Schriftzeichen tauchten auf. Dorian erkannte das Blau und die Embleme seiner bevorzugten Zigarettensorte – der Players.
Die Vision verwischte wieder, aber Dorian verspürte ein unbezähmbares Verlangen nach einer Zigarette. Er tastete die Taschen seines Smokings ab, fand aber keine Packung. Langsam erhob er sich von seinem Stuhl.
Niemand schenkte ihm Beachtung, als er den Saal verließ. Dorian schritt durch das Musikzimmer und den Salon und kam ins Foyer.
Was er erlebte, kam ihm wie ein süßer, schwermütiger Traum vor. Er näherte sich der Kellertür und lächelte. Plötzlich wusste er ganz genau, wo er zu suchen hatte. Er hatte doch die Zigaretten unten im Gewölbe vergessen, in dem bemalten Raum, in der eisernen Jungfrau, die man so leicht aufklappen konnte. Ein Griff würde genügen, und er hatte seine Zigaretten. Da sträubte sich etwas in ihm. Aber sofort war wieder die fremde Macht da, die Dorian in den Bann zurückzwang.
Er seufzte und ging die Steintreppe hinab. Im Gang war es finster, aber er fand sich ausgezeichnet zurecht. Bald trat er in die bläulich beleuchtete Teufelskapelle. Ganz automatisch strebte er der eisernen Jungfrau entgegen. Er fasste den Deckel an und zog ihn zu sich heran. Der Deckel verursachte kein Geräusch; er war gut gefettet.
Dorian blickte auf die tückischen spitzen Eisenteile im Inneren des Folterwerkzeuges, aber die Dornen bereiteten ihm kein Unbehagen. Unverdrossen bückte er sich. Da lag die Packung, und sie schien ihn anzulachen. Seine Players. Er musste sie haben. Unbedingt.
Die Kette, an der die gnostische Gemme hing, bewegte sich. Der Talisman rutschte aus dem Hemd, baumelte plötzlich vor Dorians Gesicht. Da wurde er sich seiner Lage bewusst.
Er stockte.
Ein Schatten war plötzlich hinter ihm. Dorian sprang zur Seite, verlor das Gleichgewicht und stürzte, aber wenigstens hatte er sich aus dem Gefahrenbereich gebracht.
Was da auf ihn zugeschlichen gekommen war, war eine der Besessenen aus dem Saal, eine der Frauen, die Laura Bertini umstanden hatten. Das altmodische lange Abendkleid bauschte sich, als sie sprang und den Deckel der eisernen Jungfrau zuwarf.
Zu spät! Dorian war fort; der Deckel krachte zu und sprang gleich wieder auf. Die Besessene fuhr herum und zischte. Geifer tropfte aus ihrem Mund. Sie glotzte den am Boden liegenden Dämonenkiller mit entsetzlichen Augen an und stieß eine Reihe obszöner Flüche aus.
Dorian kam hoch. Sofort holte er die gnostische Gemme hervor und hielt sie empor.
»Tu das weg!«, sagte die Besessene. »Ich will das nicht sehen. Tu es weg!«
»Weiche von mir!«, erwiderte Dorian ruhig.
Sie kreischte, heulte und warf sich auf ihn. Kopf und Brust Dorians wagte sie nicht zu
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