0534 - Der Unsichtbare
gewitzt durch die seltsamen Vorfälle, hatte sie sich angewöhnt, sich alles sehr genau zu merken.
Außerdem war eine andere Seite aufgeschlagen als die, in welcher sie gerade vorher gelesen hatte…
Sie fuhr herum. Sie wollte zur Sprechanlage neben der Tür, Nicole oder Zamorra anrufen. Der Unsichtbare war hier, in ihrem Wohnzimmer! Jetzt!
Sie prallte gegen etwas.
Gellend schrie auf, als sich für den Bruchteil einer Sekunde etwas Unbegreifliches aus dem Nichts schälte, um im Nichts sofort wieder zu verschwinden, als sie die körperliche Berührung nicht mehr spüren konnte. Sie strauchelte, taumelte zur Seite. Da war ein Windzug. Dann wurde um sie herum alles schwarz; ihr anhaltender Hilfeschrei verstummte abrupt.
***
Da war so etwas wie ein Grundrißplan des Châteaus, einfach und klar. Punkte erschienen. Erkenne, wie viele Personen sich im Château Montagne bewegen. Lokalisiere diese Personen. Das Arbeitszimmer: eine Person. Zamorra selbst. In Raffaels Wohnung ein Punkt: der alte Diener in seinem Bett. Fernsehzimmer: ein Punkt, vermutlich Nicole Duval. Garage: ein Punkt. William, der Butler, der etwas an den Autos zu erledigen hatte? Oder an seiner Stelle Nicole, die eine abendliche Ausfahrt plante, und statt dessen William im Fernsehzimmer?
Gästetrakt: Drei Punkte in zwei verschiedenen Zimmern, die zu Lady Patricias Quartier gehörten.
Das eine mußte das Kinderzimmer sein, der andere Raum das Wohnzimmer, und da waren zwei Punkte.
Insgesamt eine Person zuviel…
Unterscheide sie nach Körperform und -größe.
Zwei große Personen im Wohnzimmer, eine kleine im Raum daneben.
Der Unsichtbare befand sich im Château! Der Dhyarra-Kristall meldete ihn!
Aber befand er sich wirklich im Gästetrakt? Konnte dort nicht auch gerade Nicole oder William mit Patricia reden, und der Unsichtbare befand sich im Fernsehzimmer oder in der Garage?
Das Bild wurde intensiver. Körperform und -größe. Da wurde auch bei den beiden im gleichen Raum befindlichen Personen ein erheblicher Unterschied gemeldet. Doch im gleichen Augenblick fühlte Zamorra, wie sich bleierne Müdigkeit über ihn senkte. Er kämpfte dagegen an. Plötzlich hatte er das unglaublich starke Bedürfnis, etwas Verrücktes zu tun. Warum sollte er nicht einfach aufs Dach des Hauptgebäudes hinauf steigen und sich von dort kopfüber auf die Pflastersteine des Innenhofes fallen lassen? Oder den Blaster aus dem Tresor nehmen und sich einfach ein Laserloch durch den Kopf schießen? Oder beides zugleich? Das Ergebnis würde bestimmt lustig aussehen.
Er erhob sich, um den Tresor zu öffnen und die Strahlwaffe herauszuholen.
***
Nicole schaltete den Fernseher wieder ab. Die Nachrichtensendung war recht unergiebig gewesen; in der Tagespolitik blieb alles beim alten wie stets, und an der Berichterstattung über den dreiundvierzigsten umgekippten indischen Reisebus dieses Jahres war sie ebensowenig interessiert wie am geplatzten Kaffeesack im Frachthafen von Rio deJaneiro oder dem neununddreißigtausendsten angeblichen Waffenstillstand in mehr oder weniger benachbarten Krisengebieten; daß Nachrichtenredakteure absolute Banalitäten zu Aktualitäten hochstilisierten, hielt sie schon teilweise für Volksverdummung.
Was wirklich wichtig war, wurde dagegen in einer Dreizeilenmeldung abgehakt, die beim Kameravortrag gerade mal zwanzig Sekunden dauerte.
Das folgende Spielfilmangebot konnte sie auch nicht überzeugen. Also kein Grund, eine Sendung aufzuzeichnen oder sich gar direkt vor den Fernseher zu setzen. Viel mehr interessierte sie jetzt, was Zamorra plante, der vorsichtshalber nichts über seinen Plan verraten hatte. Nicole hätte es an seiner Stelle auch nicht getan.
Sie lauschte in sich hinein; das Gefühl, von einem Unsichtbaren beobachtet zu werden, blieb aus. Aber das besagte nichts. In Zamorras Arbeitszimmer hatte sie heute auch nichts gespürt, dennoch mußte der Unheimliche anwesend gewesen sein.
Jetzt aber hatte er sicher anderes zu tun, als sich für französische TV-Programme zu interessieren.
Vielleicht schaute er gerade wieder einmal Zamorra über die Schulter, um ihn an für den Unsichtbaren »gefährlichem« Tun zu hindern.
Nicole verließ das Fernsehzimmer. Ihr fiel ein, noch einmal mit Patricia zu reden. Die spielte vermutlich wieder mal mit dem Gedanken an Abreise, wie schon öfters. Warum begriff sie nicht, daß sie anderswo ebenso gefährdet war wie hier, hier allerdings Freunde in der Nähe waren, die eine Gefahr abwenden konnten,
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