054 - Gucumatz der Allmächtige
Gesicht unter einem dunklen Tuch verborgen war. Sie erkannte ihren Entführer.
»Wissen Sie, warum Sie hierhergebracht wurden, junge Frau?« fragte er gedämpft.
Sie wollte sprechen und konnte nicht, schüttelte nur den Kopf.
»Sie wurden hierhergebracht, weil Sie mit Leuten verkehren, die der gefiederten Schlange verhaßt sind. « Der Mann sprach langsam, als müsse er sich Wort für Wort besinnen. »Wenn wir wollen, können wir Sie jahrelang hier behalten, und kein Mensch würde etwas ahnen. Wenn Sie aber feierlich versprechen, daß Sie keiner Menschenseele verraten wollen, was Ihnen heute nacht zugestoßen ist, wird die gefiederte Schlange Sie unbeschadet zurückbringen.«
Er wartete auf Antwort. Sie hatte Mühe, einen Ton hervorzubringen. »Ich sage... nichts. Bestimmt nicht. Ich... verspreche es. «
»Sie werden keiner Menschenseele etwas verraten?« »Nein. Ich verspreche es.«
Er ging hinaus, schloß die Tür, blieb eine Weile weg. Als er wiederkam, trug er ein Tablett mit einer Tasse Bouillon, einem Brötchen und einer ungeöffneten Flasche Wein. »Nein, danke«, sagte sie. »Ich möchte lieber Wasser.« »Trinken Sie die Suppe«, befahl er, ging jedoch hinaus und kam mit einem Glas Wasser zurück, das sie gierig leerte. Dann trank sie langsam die Bouillon und fand sie belebend. »Fertig?« fragte er, als sie die Tasse wegstellte.
»Ja«, antwortete sie mit einer Stimme, die ihr fremd erschien.
Er führte sie durch den Korridor hinaus. Der Wagen wartete schon. Zu ihrer Erleichterung stieg der Mann nicht mit ein, sondern begnügte sich mit einer Warnung.
»Wenn Sie klug sind, halten Sie sich ruhig und versuchen nicht, auf sich aufmerksam zu machen. Die Polizei würde Ihre Geschichte sowieso nicht glauben.«
Der Wagen fuhr einen anderen Weg als auf der Hinfahrt. Sie kannte die Route nicht, aber schon bald sah sie die ersten vertrauten Gebäude der Stadt. Es schlug zwei, als sie vor ihrem Haus hielten. Daphne stieg eilig aus, schlug die Tür hinter sich zu, und sogleich fuhr der Wagen davon.
Sie war neugierig genug, dem Auto nachzusehen, aber das Nummernschild war so schmutzig, daß das Kennzeichen nicht zu entziffern war. Daphnes Hände zitterten so heftig, daß sie Mühe hatte, die Tür aufzusperren, und dann lag sie eine Stunde lang völlig angekleidet auf dem Bett, während sie sich langsam von dem Schrecken erholte. Erst als ihr Herz wieder ruhiger schlug, stand sie auf und zog sich aus.
Sie glaubte, sie würde die ganze Nacht kein Auge zutun, aber kaum war sie unter die Decke geschlüpft, fiel sie schon in einen traumlosen Schlaf, aus dem sie erst um elf Uhr erwachte, als die Putzfrau klopfte. Erschreckt fuhr sie hoch, und einen Moment lang legte sich die Erkenntnis, daß sie viel zu spät zur Arbeit kommen würde, über die Erinnerung an die Schrecknisse der Nacht.
15
»Eine Dame ist am Telefon. Sie hat schon zweimal angerufen. Ich hab ihr gesagt, Sie schlafen noch«, sagte die Putzfrau, und mit einem Schlag fielen Daphne Ella und ihr Mantel ein.
Was sollte sie sagen? Sie ging zum Telefon, und gleich drang Ellas scharfe Stimme auf sie ein.
»Wo sind Sie denn gestern abgeblieben?« Von Herzlichkeit keine Spur mehr. Aber Daphne war zu mitgenommen und zu müde, um sich darüber Gedanken zu machen.
»Ich bin in den falschen Wagen gestiegen - er wartete wohl auf jemanden von Ihrem Ensemble -, und eh ich's mich versah, war ich weit außerhalb von London.« Sie war keine gute Lügnerin. Ihre Erklärung kam stockend. Ella Creed schien sie .nicht zu überzeugen.
»Ist das wirklich wahr?« fragte sie mißtrauisch. »Meinen Chauffeur hat nämlich jemand auf eine Fahrt ins Blaue geschickt. Ich dachte, man hätte Ihnen vielleicht einen Streich gespielt.« »Nein, nein, bestimmt nicht«, versicherte Daphne in Panik. Wenn Leicester Crewe die Entführung veranlaßt hatte, dann war dies vielleicht eine Falle, um festzustellen, ob sie Wort hielt.
»Ich würde Sie heute gern sehen. Wo sind Sie um zwei?«
Sie gab ihr Beales Adresse, obwohl sie nicht wußte, ob der nicht vielleicht etwas gegen Besuch einzuwenden hatte.
»Beale?« Ella notierte sich offensichtlich die Anschrift. »Gut, ich komme gegen zwei vorbei.«
Daphne setzte sich zum Frühstück, obwohl sie kaum Appetit hatte. Es konnte nicht Crewe gewesen sein; es sei denn, er bediente sich der gefiederten Schlange als Tarnung. Und irgendwie paßte es zu ihrem Bild von seinem Charakter, daß er im letzten Moment vor der Ausführung seines gemeinen
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