054 - Josephas Henker
lange, rote Haar sah aus wie gehämmertes Kupfer. Noch konnte Josepha ihr Gesicht nicht erkennen, aber sie sah, daß die Fremde eine schlanke, zierliche Figur und einen großen Busen hatte. Jetzt konnte sie die Worte des Liedchens verstehen.
Das arme Henkersliebchen sank früh ins kühle Grab.
Der Liebste muß es büßen
- bis an den Jüngsten Tag.
Josepha überlief ein Schauder. Ihr böser Alptraum fiel ihr ein. Sie wich vor der näher kommenden Fremden zurück.
Dann sah Josepha das Gesicht der Fremden, konnte es genau erkennen im bleichen Mondlicht. Die Fremde war ihr Ebenbild. Jedes Haar, jede Wimper, sogar das winzige Muttermal über dem linken Mundwinkel waren genau wie bei ihr. Die Fremde war ihr Spiegelbild, ähnlicher als eine Zwillingsschwester der andern.
Sie beachtete Josepha nicht. Sie ging so nahe an ihr vorbei, daß sie Josepha fast berührte. Die grünen Augen streiften Josepha mit einem Blick, der ihr durch und durch ging. Dann war die Erscheinung vorüber. Josepha sah ihr nach. Wieder hörte sie die andere das Liedchen trällern.
Josepha hatte schreckliche Angst. Sie wußte nicht mehr, was Wirklichkeit und was Halluzination war. Aber sie mußte mit irgend jemandem reden, sonst wurde sie wahnsinnig. Der Mond verschwand wieder hinter den Wolken. Es war stockdunkel.
„Paul“, stöhnte Josepha. „Wo bist du, Paul?“
Sie wollte zu ihm, wollte seine starken Arme spüren und sich an seiner Schulter ausweinen. Josepha wünschte sich nichts sehnlicher, als daß sie in der Kapelle bei Paul geblieben und ihre dumme, durch den schrecklichen Traum hervorgerufene Furcht überwunden hätte.
Josepha irrte im dunklen Wald umher. Brombeerranken rissen ihre Beine blutig. Äste hielten sie fest, und Fetzen ihres Kleides und ihrer Bluse blieben daran zurück. Plötzlich wurde Josephas rechter Fuß gepackt und festgehalten. Zu Tode erschrocken zog und zerrte sie.
Dann merkte sie, daß eine Baumwurzel sie festhielt wie eine Falle. Sie schlüpfte aus dem hellen Glanzlederstiefel. Mit aller Kraft riß sie daran. Wie widerwillig gab die Baumwurzel den Stiefel frei.
Einmal glaubte Josepha ein Stöhnen zu hören, das aus einem dicken Baumstamm neben ihr zu kommen schien. Ein Käuzchen schrie. Unheimlich hallte sein Schrei durch den Wald.
In den alten Geschichten, die die Großmutter Josepha in dem alten Haus am Michigan-See erzählt hatte, als sie noch klein war, nannte sie das Käuzchen immer den ,Totenvogel’.
„Das Käuzchen ruft einen Menschen, der sterben soll“, hatte sie gesagt.
Paul in seiner trockenen Art meinte: „Dann müßte die Menschheit längst ausgestorben sein, denn diese Vögel schreien die ganze Nacht.“ Damit war für ihn die Geschichte abgetan.
Ach Paul, Paul! Wie sehr sehnte sich Josepha nach ihm, nach seiner nüchternen, vernünftigen Art, seiner Sachlichkeit, seinem Verstand und seiner Stärke. Sie wollte zu ihm, wollte zu Paul.
Später wußte Josepha nicht mehr, wie lange sie in dem dunklen Wald umhergeirrt war. Erst als der Morgen dämmerte, fand sie einen Weg. Er führte in den kleinen Ort. Josepha kam zum Gasthaus.
Der einäugige Wirt duckte sich hinter den Tresen, als er Josepha sah. Sie sah schlimm aus. Ihre Kleider waren zerrissen, ihr rotes Haar zerzaust, das Gesicht von Dornenranken und Ästen zerkratzt.
„Wo ist der Schlüssel?“ fragte Josepha.
„Er … er ist oben“, sagte der Wirt scheu.
Josepha ging ins Obergeschoß. Die Tür von Nummer 14 war offen. Paul lag angekleidet auf der zerschlissenen, roten Steppdecke des altertümlichen Bettes. Sein Gesicht war bleich wie ein Laken.
Im ersten Augenblick erschrak Josepha furchtbar, denn kein Atemzug hob seine Brust. Er lag da wie tot. Sie beugte sich über ihn, legte das Ohr an seine Brust. Sein Herz klopfte regelmäßig. Aber sein Atem ging ganz flach, und von Zeit zu Zeit stöhnte er leise, als plage ihn ein schrecklicher Alptraum.
Josepha rüttelte Paul an der Schulter.
„Paul!“ rief sie. „Paul, wach auf. So wach doch auf!“
Aber er kam nicht zu sich. Er schlief, als sei er zu Tode erschöpft, völlig betrunken oder betäubt. Josepha konnte ihn nicht wach kriegen.
Durch das Rütteln und Schütteln hatte sich Pauls Hemdkragen verschoben. Josepha sah zwei etwas auseinander liegende rote Punkte an seinem Hals. Wie kleine Bißwunden sahen sie aus.
Josepha betrachtete sie, berührte sie mit dem Finger. Sie schienen tief zu sein. Direkt bei der Halsschlagader lagen sie. War Paul verletzt?
Es war
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