054 - Josephas Henker
tanzten.
Dazu erklang eine klagende Melodie. Es war die Melodie des Liedchens, das Josephas Ebenbild in der Nacht geträllert hatte.
Das arme Henkersliebchen sank früh ins kühle Grab.
Der Liebste muß es büßen
- bis an den Jüngsten Tag.
Entsetzt hörte Josepha das Lied, sah dem gespenstischen Geisterballett zu. Schaudernd wandte sie sich um, wollte den Pfad zurücklaufen.
Doch da war kein Pfad. Nur Bäume, Büsche und dichte Brombeerhecken. Josepha lief am Rande der Waldwiese entlang. Doch überall stellte sich ihr der Wald entgegen wie eine Mauer.
Da löste sich ein Nebelstreifen aus den wogenden, tanzenden Schwaden. Er hüllte Josepha ein. Etwas berührte ihren Nacken. Josepha wirbelte herum, doch da war niemand.
Sie hörte eine einschmeichelnde Frauenstimme: „Willst du uns schon wieder verlassen, Josepha? Bleib bei uns, wir haben dich so sehnsüchtig erwartet.“
Josepha stieß einen gellenden Schrei aus. Ihr wurde schwarz vor
Augen. Ohnmächtig sank sie zu Boden. Die Geistermelodie steigerte sich zu einem schrillen Akkord.
Die Nebelschleier hüllten Josepha ein. Kichern, Raunen und Lachen ertönte. Eine Frauenstimme sagte höhnisch: „Jetzt haben wir dich, Josepha.“
Paul erwachte. Er setzte sich im Bett auf. Einen Moment sah er sich um, denn er war noch ganz in der Vorstellung befangen, im Boston der Pilgerväter zu leben. Dann fiel ihm alles wieder ein.
Er stieß einen Fluch aus, denn die Sonne stand schon tief. Ein Blick auf seine Armbanduhr zeigte ihm, daß es schon 18.30 Uhr war. Paul hatte fünfeinhalb Stunden tief und fest geschlafen. Warum hatte Josepha ihn nicht geweckt? Und wo war sie eigentlich?
Paul sprang aus dem Bett. Er zog sich an, kämmte sich, strich mit dem Handrücken über den Stoppelbart. Doch ohne Rasierapparat konnte er sich nicht rasieren.
Paul verließ das Zimmer. Er schloß ab, hängte den Schlüssel hinter dem Tresen in der Gaststube an den Haken.
Der Wirt stand hinter dem Tresen und wischte mit einem schmierigen Lappen die Gläser und Humpen aus.
„Haben Sie meine Frau gesehen?“ fragte Paul.
„Die ist weggegangen“, brummelte der Wirt. „Ist schon eine ganze Weile her.“
„Falls sie zurückkommt, während ich weg bin, sagen Sie ihr, sie soll auf mich oben im Zimmer warten. Ich bleibe nicht lange fort.“
Der Wirt nickte. Paul verließ die Gaststube. Er ging in raschem Schritt zu der Tankstelle, zu der auch eine Werkstatt gehörte. Nach dem reichlichen Mittagessen und den fünfeinhalb Stunden Schlaf fühlte Paul sich wie neugeboren.
Als Paul zur Tankstelle kam, hing ein Schild an der Tür: Geschlossen. Sein Leihwagen stand noch so, wie er ihn abgestellt hatte. Nur die Lichtmaschine war inzwischen ausgebaut.
Paul hämmerte mit der Faust an die verschlossene Glastür der Tankstelle. Er wartete einen Augenblick. Nichts rührte sich. Nach einer Weile gab Paul es auf. Langsam ging er zum Gasthof zurück. Er machte sich Sorgen um Josepha. Wo blieb sie denn nur so lange und warum hatte sie ihn nicht geweckt?
Im Gasthof fragte Paul den einäugigen Wirt nach Josepha.
„Ist meine Frau schon zurück?“
Der Wirt schüttelte den Kopf und zog eine uralte, zwiebelförmige Taschenuhr aus der Westentasche. Er ließ den Deckel aufschnappen, sah auf die verschnörkelten Zeiger.
„Sieben Uhr“, sagte er. „Sie versteckt sich, aber das nützt nichts.“
Er kicherte hämisch. Sein gesundes Auge funkelte. Da griff Paul über die Theke, packte den Wirt, zog ihn zu sich herüber. Halb hing der Mann über dem Tresen.
„Wo ist sie?“ zischte Paul. „Was weißt du? Rede, Mensch.“
„Nichts“, ächzte der Wirt. „Ich weiß – nichts.“
Starke Arme packten Paul von hinten. Drei Männer rissen ihn zurück. Wütend schüttelte er sie ab.
„Lassen Sie den Wirt in Ruhe“, sagte ein älterer Mann an einem der Tische. „Er weiß nicht, wo Ihre Frau ist. Er will ihr und Ihnen nichts Böses, so wenig wie wir alle.“
„Ihr habt eine merkwürdige Art, das zu zeigen“, sagte Paul sarkastisch. „Was für ein komisches Nest ist das denn hier?“
Der ältere Mann zuckte die Schultern.
„Dieser Ort hat seine eigenen Gesetze. Wollte Gott, es wäre anders. Wir können Ihnen nicht helfen, Warringer.“
„Sie kennen meinen Namen? Woher?“
„Wer mit Josepha kommt, ist immer ein Warringer.“
„Woher kennen Sie meine Frau? Was hat das alles zu bedeuten?“
Ein Gedanke kam Paul, so kühn, daß er ihn kaum auszusprechen wagte. „Sollte hier
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