0541 - Der Sohn des Höllenfürsten
Schöpfungsgeschichte?«
Zamorra sah sich um. Kein Mensch war in der Umgebung zu sehen.
»Erzähl sie mir«, bat er.
»Es war die Zeit, als der Gott Himmel und Erde schuf«, sagte Tendyke langsam. »Er schuf auch die Tiere, und er wollte ein ganz besonderes Wesen schaffen und ihm die Erde und alles darauf untertan machen. Also nahm er einen Klumpen Lehm, formte ihn und tat ihn in den Ofen, um den Lehm zu Ton zu brennen. Aber er nahm ihn zu früh wieder heraus. Das Geschöpf war blaßhäutig. So entstand die Rasse der Weißen. Da nahm der Gott einen zweiten Lehmklumpen, formte ihn und tat ihn in den Ofen. Diesmal ließ er ihn zu lange darin; das Geschöpf war schwarzhäutig. So entstand die schwarze Rasse. Auch damit war der Gott nicht zufrieden. Er nahm ein drittes Mal einen Lehmklumpen, formte ihn und tat ihn in den Ofen. Diesmal nahm er ihn zur rechten Zeit heraus. Das Geschöpf hatte eine wunderschöne braune Haut, und der Gott war endlich mit seiner Schöpfung zufrieden - das Geschöpf war der Zigeuner.«
Zamorra lächelte.
»Ziemlich selbstbewußt, diese Geschichte.«
»Nicht mehr und nicht weniger als die christliche Schöpfungsgeschichte. Jedes Volk sieht seinen Ursprung und den der Welt aus seiner eigenen Sicht. Jesus Christus wird von uns Weißen grundsätzlich als Weißer angesehen, nur logisch angesichts seiner Herkunft. Aber christianisierte Schwarze verehren eine schwarze Madonna und mit ihr auch ein schwarzes Jesuskind. Indianer und Chinesen sehen ihre eigenen Vorfahren in der Schöpfung. Und die australischen Aborigines haben eine noch ganz andere Vorstellung von der Weltenschöpfung… Aber seltsamerweise sind es nur die westlichen Religionen, die nichts außer sich selbst tolerieren. In der Zeit, in der wir uns jetzt befinden, Zamorra, sind Menschen zu Tode gefoltert oder bei lebendigem Leib verbrannt worden, nur weil sie es wagten, eine abweichende Meinung zu äußern. Und das ausgerechnet von den Nachfahren derjenigen, die von römischen Kaisern bekämpft und verbrannt wurden. Von den Nachfahren der Vertreter der Nächstenliebe und Toleranz. Kaum hatten sie selbst Macht, als sie ihr Weltbild allen anderen aufzwangen und nun noch von Nächstenliebe redeten, statt sie zu leben.«
Zamorra wies mit ausgestrenktem Arm auf den Schattenriß des nächsten Ortes.
»Du solltest das allerdings nicht dort in der Kneipe erzählen«, mahnte er.
»Hältst du mich für bescheuert?« fragte Tendyke. »Vergiß nicht, daß ich in dieser Zeit gelebt habe, als an dich noch nicht einmal zu denken war. Nur liegt das schon ein paar Jahrhunderte zurück. Laß uns deine Neugierde befriedigen. Schauen wir, ob Urgroßväterchen hier lebt oder wenigstens bekannt ist. Danach machen wir den nächsten Zeitsprung.«
»Der natürlich über den Umweg Gegenwart führen muß.«
»Natürlich…«
Sie gingen in Richtung des Ortes, der in der Gegenwart die Stadt Sedan sein mußte.
Weit vor dem Ort lag der Totenacker, ln der Gegenwart waren hier bereits Straßen und Häuser. Jetzt aber standen hier Grabkreuze und Grabsteine auf einem eingezäunten Feld.
Eines der Gräber schien noch sehr neu. In das schlichte Holzkreuz waren Namen und Zahlen eingeschnitzt:
ROMANO DE DIGUE geb. 1436 gest. 1538
»Das - das ist«, stieß Rob Tendyke entgeistert hervor, »das ist unmöglich!«
***
Im ersten Moment hielt auch Zamorra die Jahreszahl auf dem Grabkreuz für einen Fehler.
Er war mit Rob Tendyke ins Jahr 1496 gesprungen. Was sie hier sahen, konnte nicht stimmen. Eine so gravierende Abweichung war nicht möglich.
Hatte nicht möglich zu sein, weil sie nicht möglich sein durfte …!
Aber andere Gräber bestätigten die Angaben auf diesem Kreuz. Es gab noch ein halbes Dutzend weiterer Gräber, die auf 1538 datiert waren, und eine Unmenge aus den Jahren unmittelbar davor.
»Das bedeutet, wir sind tatsächlich in 1538 angelangt statt in 1496«, erkannte Zamorra betroffen. »Ich verstehe das nicht. Es dürfte nicht sein. So gewaltig kann der Zeitring nicht danebenhauen. Bisher hat er immer mit einer Abweichung von ein paar Tagen oder höchstens einer Woche das geplante Ziel erreicht.«
»Könntest du dich an den Gedanken gewöhnen, daß vielleicht jemand dazwischengepfuscht hat?« gab Tendyke zu bedenken. »Vielleicht mein heißgeliebter Herr Erzeuger?«
»Woher sollte er wissen, daß wir hierher kommen?«
»Frag mich was leichteres«, brummte Tendyke. »Er hat schon so oft in meiner Geschichte herumgepfuscht… sag mal…
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