0542 - Himalaya-Grauen
war für mich nicht zu verstehen. Jedenfalls war unsere Reihe ins Stocken gekommen, und die Ruhe tat gut, auch wenn sie nicht lange anhielt, weil sich die Prozession wieder in Bewegung setzte und endlich den Klosterhof betrat.
Das Geräusch der Schritte änderte sich. Die Männer bewegten sich über das blanke Gestein. Kein festgestampfter Erdboden dämpfte die Tritte. Ich schielte in die Höhe, weil ich den Eindruck hatte, daß sich über mir etwas bewegte.
In der Tat zuckten Schatten durch die Dunkelheit. Sehr breit und sich heftig bewegend.
Es waren die Ganos. Sie hatten unseren Weg als Wächter begleitet. Inzwischen standen wir auf dem in den Felsen hineingeschlagenen Innenhof. Aus der Luft kannte ich ihn. Jetzt, zwischen den Wänden der Häuser, kam er mir viel größer vor.
Die Fackeln rußten und rauchten. Qualm trieb gegen mein Gesicht. Ich mußte husten.
Zwei Männer wurden aufmerksam. Sie schauten auf mich herab.
In ihren Gesichtern sah ich einen Fanatismus und eine Starrheit, die mich erschreckten.
Sie würden genau das tun, was der Magier von ihnen verlangte.
Davon war ich überzeugt.
Das Pfeilgift hatte ich relativ gut überstanden. Zwar fühlte ich mich noch matt und ausgelaugt, ich stellte jedoch fest, daß ein Teil meiner Kraft wieder zurückkehrte.
Wir gingen noch nicht weiter. Zunächst bewegten sich die Männer mit den Fackeln. Sie verschwanden in den verschiedenen Häusern und zündeten dort Lichter an.
Schon sehr bald floß der Schein durch die schmalen Fenster nach draußen in den Innenhof.
Jemand rief einen Befehl!
Ein Zeichen für die Träger. Ich spürte den Ruck, als sie die Muskeln spannten. Noch immer hing ich durch. Es war mir nicht einmal mehr klar, ob ich noch einen Rücken besaß oder nicht.
Dann gingen wir. Langsamer als der größte Teil der Dorfbewohner. Unser Ziel befand sich in dem größten Haus, das als dreistöckige Flachdach-Pagode gebaut worden war.
Wladimir Golenkow wurde vor mir hineingetragen. Sehr bald folgte ich ihm und hatte das Gefühl, in ein tiefes, kaltes Grab zu gehen, obwohl überall die kleinen Öllampen brannten und ein düster-schauriges Licht abgaben.
Ein Grab mit hohen Wänden, Nischen und Stufen, die sich nach oben hin verengten und zu einem Thron hinführten, auf dem die Person saß, um die sich alles drehte.
Padmasambhava!
Ich allerdings kannte ihn als Gigantus. Und für mich trieb er mit dem Glauben der Menschen ein böses Spiel. Schon längst glaubte ich nicht mehr daran, daß Buddha in ihm wiedergeboren war. Das hatte er nur als Aufhänger genommen.
Bhutan war das Land der Drachen. Er aber saß auf keinem Drachenthron, sondern auf dem Rücken des Tigers, mit dem er durch die Lüfte über die Eisriesen hinweggeflogen war.
Der Tiger rührte sich nicht. Er wirkte wie versteinert. Auch seine Augen sahen aus, als wären sie Steine.
Gigantus wirkte trotz seiner zwergenhaften Größe auf dem Rücken des Tigers wie ein König. Von der hohen Decke herab hingen an Bändern Öllichter, die ihr Licht über ihn warfen.
In seinem Fischgesicht rührte sich nicht ein Muskel. Es blieb glatt, wie mit Seife eingeschmiert. Auch als die Träger mit uns vor seinem Thron stehenblieben, sagte er nichts. Er gab nicht einmal das Kommando, uns abzusetzen.
Der Raum war erfüllt vom Scharren der Schritte. Sie drängten sich hinein und wußten genau, wo sie Aufstellung zu nehmen hatten.
Die Männer verteilten sich an den Wänden, wo sie den besten Überblick besaßen. An der Tür hielten die in rote Umhänge gekleideten Novizen Wache. Sie trugen auch die Fackeln.
Ich schaute auf Gigantus. Rechts von mir sah ich Suko, links hing Wladimir. Seine Lippen waren verzerrt. Als er meinen Blick bemerkte, zischte er einen Fluch.
Suko gab keinen Kommentar ab. Nur wenn ich mich konzentrierte, hörte ich sein scharfes Atmen.
Allmählich kehrte Ruhe ein. Die Diener des Magiers wußten, was sie dieser für sie heiligen Stätte schuldig waren.
Wo befand sich Shao?
Vergeblich hatte ich bisher nach ihr gesucht. Auch in den von mir einsehbaren Nischen sah ich sie nicht. Falls sie sich überhaupt in der Nähe aufhielt, dann hinter Gigantus, wo das Licht der Lampen nicht hinkam und die Schatten der Dunkelheit lagen.
Gigantus löste eine Hand aus dem dicken Fell des Tigers, hob den Arm und senkte ihn wieder.
Das Zeichen wurde verstanden.
Die Träger beugten sich zur Seite, so daß die Enden der Pfähle von ihren Schultern rutschen konnten. Sie griffen noch mit den Händen
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