0542 - Himalaya-Grauen
Serpentinenartig schraubte er sich regelrecht seinem Ziel entgegen und hörte erst dort auf, wo die Mauern der Hütten in einem strahlenden Weiß glänzten.
Der Weg war beschwerlich. Wer ihn hinter sich hatte, der wußte, was er getan hatte.
Doch die Menschen gingen ihn fröhlich. Selbst die älteren Personen gaben nicht auf, auch wenn sie mit dem Gros nicht schritthalten konnten und zurückfielen. Es fanden sich immer wieder Helfer, die ihnen das Weitergehen ermöglichten.
Die Novizen stimmten die alten Gesänge an. Loblieder auf den Magier, der an diesem Tage kommen sollte.
Man hatte über ihn geredet, man hatte sogar geglaubt, daß durch seinen Mund der große Buddha sprechen würde. Ob das allerdings stimmte, daran glaubten nicht alle.
Es gab nicht wenige, die ihre Blicke gegen den Himmel schickten und dabei in Richtung Norden schauten, ohne dort allerdings die Eisriesen sehen zu können. Wenn Padmasambhava kam, dann würde er den Weg über den Norden nehmen.
Die Sicht war noch nicht optimal. Nach wie vor hingen die Dunstschwaden wie angeleimt an der Wand. Hin und wieder fuhr ein Windstoß gegen sie, dann rissen sie auf, um sich an einer anderen Stelle wieder neu zu formieren. Erst gegen Mittag, wenn die Sonne warm genug war, würden sie verschwinden, um in der Nacht wiederzukehren. Wie blasse Totenhemden legten sie sich dann über das Gestein.
Die Hälfte der Strecke hatten sie geschafft. Die Menschen keuchten auch unter der Last der schweren Fahnen. Das Klingeln der Schellen klang jetzt härter und aggressiver. Die Adepten wollten keine Pause einlegen, denn die Mönche warteten. Wenn der Magier kam, mußte er einen würdigen Empfang bekommen.
Der Weg klebte an den Felsen und war sehr gefährlich. Wer falsch trat, stürzte in die Tiefe.
Sie hatten die Kurven und Kehren nicht gezählt. Bei 700 Meter Höhenunterschied kamen sicherlich mehr als 50 zusammen.
Das harte Klingeln der Schellen wurde als Echo von den blanken Wänden zurückgeworfen. Es mischte sich in das Trampeln der Schritte oder das harte Keuchen der Menschen.
Sie schwitzten unter den Gewändern, man konnte es sogar riechen.
Das Kloster rückte näher. Mehr als die Hälfte des Weges hatten sie bereits geschafft. Jetzt waren die Kurven nicht mehr so eng gebaut, ein breiterer Weg führte bis an die hellen Häuser heran.
Direkt am Beginn stand die Pagode. Drei rechteckig gebaute Flachdachhäuser – im Westen hätte man Bungalows gesagt – standen übereinander. Sie besaßen eine unterschiedliche Größe. Das unterste nahm den meisten Platz ein, nach oben hin verjüngten sich die Ausmaße.
Die kleinen, rechteckigen Vorbauten fielen auf. Die Scheiben blinkten in einem stumpfen Grau. Selbst der helle Sonnenschein konnte ihnen kaum Glanz geben.
Das Tigernest besaß weder einen Eingang noch ein Tor, das bewacht werden mußte. Wer dem Kloster einen Besuch abstattete, kam mit reinem Herzen und verabscheute die Gewalt.
Wie abgesprochen fielen die Strahlen der Sonne aus dem blaßblauen Himmel gegen das Tigernest und übergossen es mit ihren breiten Strahlen. Das Klingeln der Schellen klang jetzt viel heller, die Sonne hatte die Freude und den Optimismus in die Herzen der Menschen gebracht. Windstöße fuhren gegen die Steilwand, blähten die Fahnen auf und schlugen den Stoff gegen die Gesichter der Menschen.
Sie waren von dem langen Marsch über drei Stunden gezeichnet worden, aber in den Augen stand die freudige Erwartung auf die kommenden Ereignisse zu lesen.
Vor dem Kloster erwartete sie ein Mönch. Er gehörte zu den älteren Männern. Sein Gesicht wirkte wie ein faltiger Lampion, doch die Augen schauten ihnen scharf entgegen, sie brauchten keine Brille.
Auch dieser Mönch trug ein rotes Gewand. Die Farbe schimmerte geheimnisvoll und dunkel. Der breite Ausschnitt ließ die kahle Brust des Mannes frei. In der Mitte wurde das Gewand durch einen Gürtel gehalten, damit es nicht auseinanderklaffte.
Die Adepten blieben stehen. Aus diesem Grunde geriet auch die Prozession ins Stocken.
Nachdem sich die Novizen verbeugt hatten, gingen sie weiter.
Und so strömten die Gläubigen aus dem Dorf in das Innere des Tigernestes.
Vom Tal her war er nicht einsehbar, doch der Platz zwischen den einzelnen Bauten konnte die Menschen aufnehmen. Damals hatten die Erbauer das Gestein aus dem Berg heraus- und abgeschlagen, so daß so etwas wie ein Innenhof trotz der Enge entstanden war.
Er galt als Versammlungsort der frommen Mönche, und auch die
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