0542 - Himalaya-Grauen
waren sie zurück in die Häuser gelaufen und hatten die Fahnen geholt, eine Arbeit ihrer Frauen. In mühevollen Stunden waren die Fahnen von ihnen gewebt worden. Mit den herrlichsten Motiven, dem Tiger und den Gesichtern des Magiers.
Durch jeden Stoff schimmerte das breite, fischartige Gesicht des Padmasambhava. Seine Lippen lagen fest zusammengepreßt, die kalten Augen leuchteten wissend und seine Wangen schimmerten graugolden. So stellten sie sich den Magier vor, der auch noch heute von ihnen so stark verehrt wurde.
Wenn er kam, würde er sie alle vereinigen und Herrscher im Reich des Drachen werden. Er würde die Stämme aus den einsamen Hochtälern zusammenführen. Unter seiner Leitung würden die alten Lehren in die neue Zeit gebracht werden. Der Aufbruch in die Zukunft begann mit der Vergangenheit.
An diesem Morgen waren sie schon früh auf den Beinen. Sie sammelten sich auf dem Dorfplatz, wo sie auch ihre Märkte abhielten und die Geschäfte abwickelten.
Heute dachte niemand daran, Geld zu verdienen. Die Menschen, ob Frauen und Männer waren festlich gekleidet. Sie hatten ihre Gewänder hervorgeholt, ihre Trachten und die Häuser frisch bemalt, damit diese Zeichen sie vor dem Angriff der bösen Geister schützten.
Auch Padmasambhava war nicht allmächtig. Oft genug wurde er angegriffen, denn die Mächtigen der Finsternis mochten es nicht, wenn andere ebenso stark wurden.
Für die Menschen im Paro-Tal war die Zeit des Hoffens und des Wartens vorbei.
Nur wenige Touristen hielten sich im Tal auf, obwohl die Stadt Paro, die nicht zu weit entfernt lag, als einzige im Land einen Flughafen besaß. Ansonsten gab es keine Verbindung Bhutans zu den anderen Ländern, abgesehen von steilen, oftmals nicht befahr- oder begehbaren Gebirgspässen.
Seit Stunden schon klangen die Schellen der Adepten durch die schmalen Gassen. Die Adepten oder Novizen waren junge Menschen, die sich entschlossen hatten, den Weg der Reinheit zu gehen.
Sie würden später in den Kreis der Mönche aufgenommen werden, um ihr Leben dann für immer in den Klausen zu verbringen.
Zu erkennen waren die Novizen an ihren hellroten, schmucklosen Gewändern und den kahlgeschorenen Köpfen.
Wenn sie durch die Straßen gingen und die Schellen rhythmisch bewegten, regte sich in ihren Gesichtern kein Muskel. Sie blieben glatt, ausdruckslos, einfach wie Masken.
Längst hatten die Menschen ihre Häuser verlassen. Sie standen auf dem Marktplatz und warteten.
Ihre Gesichter waren ernst. Einige von ihnen unterhielten sich flüsternd. Andere, meist ältere Menschen, standen still da. Nur ihre Lippen bewegten sich, wenn sie leise beteten.
Im Tal selbst hatte die Sonne den Frühdunst vertrieben. Jetzt glitten die Schwaden an den Felshängen in die Höhe, als besäßen sie zahlreiche Hände, um sich in das Gestein festkrallen zu können.
Es war einfach wunderbar. Dieser Tag mußte von den Göttern erschaffen worden sein, etwas anderes konnten sich die Menschen einfach nicht vorstellen.
Und er würde kommen.
Die Novizen und Adepten hatten es ihnen gesagt. Für sie war die Nachricht aus dem Kloster gekommen.
Alle hatten sich versammelt. Niemand war in seinem Haus geblieben. Die wenigen Touristen, sonst sehr freundlich aufgenommen, wurden nicht mehr beachtet.
Sie sollten sich in die Stadt zurückziehen, dieser Ort war nun ein heiliges Gebiet.
Vier Novizen waren aus dem Kloster gekommen, um die Menschentraube anzuführen.
Sie übernahmen auch die Spitze, als sich der Zug der Gläubigen in Bewegung setzte. Fahnen flatterten im frischen Morgenwind. Das Motiv des Tigers und das Gesicht des Magiers waren allgegenwärtig. Gestickt, gemalt und genäht in vielerlei Farben, doch immer wieder drang das tiefe Rot der Chilischoten als Grundmotiv hervor.
Jetzt leuchteten die mit Chili bedeckten Dächer der Häuser noch stärker. Die Sonne ließ es erstrahlen, und sie begleitete die Prozession auch auf ihrem weiteren Weg.
Noch war der Weg flach. Sie schritten zwischen den Feldern einher, wo ihre Kühe und Ziegen weideten. Im Schatten der Berge war das Gras saftig und von dunkelgrüner Farbe.
Sehr bald schon gerieten sie in die Felsregion. Der Boden wurde hart, er verlor an dieser Stelle seine Fruchtbarkeit. Wie glatt geschliffen wirkte der Fels, der mal hell- dann wieder dunkelgrau schimmerte oder von langen grünen Schatten bedeckt war.
Steil führte der Weg hoch.
Nicht in einer geraden Strecke, nein er mußte sich in vielen Kurven durch den Fels winden.
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