0544 - Der Bleiche
beunruhigt.«
»Es ist etwas da!«
Vier zischend geflüsterte Worte, mehr hatte er nicht gesagt. Die aber reichten aus, um in Kyra ein Alarmsignal erklingen zu lassen.
»Was meinst du damit?«
»Gefahr!«
Sie fuhr durch ihr dichtes Haar. Eine Geste der Unsicherheit und Verlegenheit. »Gut, du sprichst von einer Gefahr. Wenn sie vorhanden ist, können wir uns ihr entgegenstellen.«
»Noch nicht«, sagte der Tote, »noch nicht. Meine Zeit kommt erst. Ich bin noch zu schwach. Ich muß erst warten, bis die Jenseits-Sonne am Himmel steht, auch wenn sie durch Wolken verdeckt sein sollte. Aber ihre Kraft bekomme ich mit.«
»Welche Jenseits-Sonne?«
»Der Mond – es ist der Mond!«
Kyra wunderte sich. Den Begriff Jenseits-Sonne hatte sie noch nie gehört. In der anderen Welt schienen auch andere Begriffe zu herrschen. »Was kann ich für dich tun?«
»Nichts!« zischelte er. »Die Gefahr nähert sich. Ich werde gehen. Ich muß gehen.«
Kyra zeigte sich erstaunt. In all den Nächten hatte sie bei dem Bleichen nicht solche Reaktionen erlebt wie an diesem Abend. Da schien tatsächlich etwas auf sie beide zuzukommen, das er nicht bremsen konnte. Sie traute sich kaum, eine Frage zu stellen und mußte sich dazu regelrecht überwinden. »Wo willst du hin? Zurück ins Jenseits?«
»Nein, ich bleibe im Haus.«
Ein Lächeln huschte über Kyras Züge. Die Antwort beruhigte sie im Moment, warf allerdings neue Fragen auf. Nur wagte sie es nicht mehr, die entsprechenden Fragen zu stellen. Der Bleiche sollte auf keinen Fall das Gefühl bekommen, eingeengt zu sein.
Er trat zur Seite und drehte sich dabei so herum, daß er auf die Wohnungstür schauen konnte. Kyra blieb stehen wie ein verlassenes Mädchen. Sie schaute ihm zu, wie er durch den Flur glitt.
Es war tatsächlich ein Gleiten. Den Boden schien er kaum zu berühren. Von seinem erleuchteten Kopf her wuchs der blasse Nebelstreif in die Tiefe. Der Schädel selbst erinnerte, aus der Distanz gesehen, an einen ausgehöhlten Kohlkopf, der für das Halloween-Fest verwendet wird. Angst vor einer Entdeckung schien er nicht zu haben. Jedenfalls öffnete er die Tür, ohne sich vorher zu vergewissern, ob irgend jemand im Treppenhaus stand und ihm zuschaute.
Er ging, ohne sich noch einmal umzudrehen. Kyra lief mit abgehakt wirkenden Schritten vor, erreichte die Tür und sah, daß der Bleiche die Treppe hochging.
Auch jetzt wagte sie es nicht, ihn nach dem Ziel zu fragen. Luke hätte ihr auch nicht gesagt, daß er unterwegs war, um eine ehemalige Geliebte zu besuchen…
***
Die Häuser glichen sich, auch wenn das, in dem Kyra Benson wohnte, älter war. Wir hatten nur die Straße zu überqueren brauchen und standen jetzt vor der Fassade, an der wir die Blicke hochschweifen ließen. Ich nickte Suko zu. »Sieht harmlos aus, nicht wahr?«
»Man kann sich täuschen.«
»Glaubst du auch an…«
»Ich glaube an gar nichts, John.« Mein Freund betrat die schützende Türeinfahrt als erster. Auch hier entdeckten wir ein Klingelbrett. Es war sogar beleuchtet.
Wir lasen den Namen Benson neben einem Perlmuttfarben schimmernden Knopf. Suko wollte schon seine Fingerspitze darauf legen, als ich gegen die Haustür stieß.
Sie schwang nach innen, da sie niemand abgeschlossen hatte. »Ist doch auch was – oder?«
Suko lächelte, als er sich in den Flur schob. Ich folgte ihm auf dem Fuße.
Die alten Häuser hatte man früher noch sehr stabil gebaut. Die dicken Mauern ließen kaum Geräusche nach außen dringen. So vernahmen wir aus den Wohnungen auch nur hin und wieder sehr leise Musik oder Stimmen.
Das Flurlicht brannte nicht, wir fanden uns auch ohne zurecht.
Vor uns zeichnete sich die Treppe mit ihren breiten Stufen ab. Das Geländer gehörte ebenfalls noch zu der handgefertigten Sorte. Sein breiter Handlauf besaß eine Mulde.
In der ersten Etage befanden sich ebenfalls zwei Wohnungen. Wir mußten die rechte nehmen.
Bevor einer von uns klingelte, lauschten wir noch und hatten dabei unsere Ohren gegen das Holz gelegt.
Nichts war zu hören. Aus der Wohnung drang kein einziges Geräusch. Die Stille schien in dem Hausflur zu kleben.
»Was meinst du?« fragte Suko. »Erwartet sie uns?«
Suko hob die Schultern. »Wie sollte sie überhaupt wissen, daß wir sie auf dem Auge haben?«
»Der traue ich vieles zu.«
»Du kennst sie nicht.«
»Stimmt. Wenn es tatsächlich der Wahrheit entspricht, was uns Ella Freeland sagte, können wir uns bei Kyra Benson auf einige Überraschungen
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