0544 - Der Bleiche
spöttisch. »Wollen Sie den Spiegel nicht an die Wand hängen, Mrs. Benson?«
»Nein, er bleibt dort.«
»Ist er ein besonderer Spiegel? Hat er eine gewisse Funktion?«
»Die hat er!«
»Und welche?«
»Hören Sie auf, dumme Fragen zu stellen. Ich will, daß Sie die Tür wieder schließen.«
»Spiegel«, begann ich, »sind oft ungewöhnliche Gegenstände. Sie haben seit altersher etwas Geheimnisvolles an sich. Sie werden von Flair der Faszination umweht. Spiegel geben ein Bild zurück. Das Bild eines Menschen. Grausam, klar, ungeschminkt. Spiegel können gehaßt und geliebt werden, aber nicht alle Spiegel sind gleich.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Wir wissen, daß es Spiegel gibt, die eine andere Funktion haben, als nur das Gesicht oder den Körper des Menschen zu zeigen. Sie sind manchmal die Eintrittskarte zu einer anderen Welt, zu einem fremden Reich, das mit den Kräften des Jenseits erklärt werden kann. So jedenfalls sehe ich es.«
»Das ist mir egal, wie Sie…«
»Lassen Sie mich den Spiegel anschauen.« Bevor sie mich daran hindern konnte, hatte ich den Raum schon betreten. Sie keifte noch, aber ich war bereits weitergegangen und blieb so dicht vor dem Spiegel stehen, daß ich ihn fast mit den Fußspitzen berührte.
Ich senkte den Kopf. Hinter mir hörte ich das hastige Atmen der Frau. Sie wurde von Suko nicht aus den Augen gelassen.
Ich sah mich in der Fläche. Allerdings nicht so klar wie in einem Badezimmerspiegel. Mein Gesicht, der Hals und die Schultern verschwammen, als würde über der Fläche ein blasser Nebelstreif liegen, der meine Konturen aufsaugte.
Dieser Spiegel war nicht normal. Ich hatte vorhin etwas allgemein über Spiegel gesprochen. Es gab auch welche, die stellten Tore zu anderen Welten dar. Man konnte in sie hineingehen wie in einen Raum und versank in einer fremden Dimension.
Ich drehte den Kopf.
Kyra Benson stand nur einen Schritt von mir entfernt. Suko auf Tuchfühlung neben ihr. Die Frau atmete heftig. Ihr großen Busen wogte dabei. Ihr Gesicht aber glich einer strengen Maske.
Ich nickte ihr zu. »Es ist ein sehr ungewöhnlicher Spiegel«, erklärte ich mit leiser Stimme. »Wirklich, Mrs. Benson, ich bin überrascht davon. Wie ist das möglich? Ich sehe mich, aber meine Umrisse verschwimmen innerhalb der Fläche.«
»Er ist alt und verbraucht.«
»So kann man es auch sehen. Haben Sie seine Fläche nie geputzt?«
»Nein. Mein Mann und ich haben ihn so geliebt, wie er ist.«
»Weshalb liegt er auf dem Boden?« wollte Suko wissen. »Normalerweise hängt man Spiegel auf.«
»Ist das nicht unser Problem gewesen?«
»Selbstverständlich, Mrs. Benson, entschuldigen Sie! Aber es ist schon ungewöhnlich.«
»Das war mein Mann auch.«
Ich lächelte ihr zu und ging dabei in die Knie.
»Was haben Sie vor?«
»Ich möchte ihn gern anfassen, denn auch ich liebe Spiegel. Vor allen Dingen dann, wenn Sie ungewöhnlich sind.«
»Nein, Sie…«
Es war schon zu spät. Daß Kyra Benson sich nicht auf mich Stürzen konnte, dafür sorgte Suko, denn er hielt sie fest. Ich hatte den rechten Arm ausgestreckt und legte meine Handfläche auf die Spiegelfläche.
Ja, sie war anders als normal.
Eigentlich hätte ich den harten Widerstand spüren müssen. Ein Widerstand war zwar vorhanden, nur kam er mir viel weicher vor.
Ich hatte das Gefühl, die Fläche eindrücken zu können, wobei die Hand dann bis zum Gelenk verschwand.
Das allerdings ließ ich bleiben. Statt dessen drehte ich die Hand im Kreis und wunderte mich auch weiterhin über die ungewöhnliche Weichheit dieses Materials.
»Enorm«, sagte ich. Ich schielte zu der Witwe hoch. »Mrs. Benson, da haben Sie tatsächlich ein außergewöhnliches Stück erworben.«
»Stimmt.« Sie räusperte sich. »Da Sie jetzt alles gesehen haben, darf ich Sie bitten, meine Wohnung zu verlassen.«
Das hatten wir nicht vor. Der Spiegel und auch die Frau waren einfach zu interessant.
Ein Tor zu einer anderen Welt! Dieser Satz wollte mir einfach nicht aus dem Kopf. Ich spann den Faden weiter und kam zu dem Ergebnis, das, wenn meine Vermutungen stimmten, der Spiegel möglicherweise das Tor zum Jenseits sein konnte.
Vielleicht war es Luke Benson als Totem gelungen, die Grenzen zu überschreiten.
Kyra schien meine Gedanken zu ahnen. »Ist noch irgend etwas, Mr. Sinclair?«
»Ich denke nach.«
»Wie schön für Sie. Und worüber?«
»Darüber, was hinter dem Spiegel liegt. Oder darunter.«
»Der Fußboden.«
»Darf ich mich davon
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