0551 - Im Licht der schwarzen Sonne
herunterschluckend, gab er dem Zauberer von Avalon zu verstehen, eine weite Ebene, von buntem Gras bewachsen, unter einer grellweißgelben, nicht blendenden Sonne zu sehen, die an einem grünen Himmel stand.
Merlin nickte.
»Was aber wird sein, wenn ich dir sage, daß du dich irrst?« fragte er. »Der Himmel ist gelb, und diese Ebene ist die Dachfläche eines riesigen Turmes einer noch gewaltigeren Stadt.«
»Unmöglich«, murmelte Zamorra.
Aber Merlin hatte so selbstbewußt gesprochen, so sicher… und Zamorra hatte den Unsterblichen noch nie dabei ertappt, eine Unwahrheit zu sagen.
Aber er sah doch einen - nein, das gab es doch nicht! Das widersprach allen Naturgesetzen!
Immer stärker verfärbte sich der Himmel ins Gelbliche! Und die Ebene -ähnelte sie nicht doch einem riesigen Turm, und war das Gebirge nicht in Wirklichkeit eine Ansammlung von Wolken?
Da begann Zamorra zu laufen, um den Rand des Turmdaches zu erreichen. Viel schneller als erwartet erreichte er ihn. Kurzatmig blieb er stehen, sah über den Rand nach unten - und mußte feststellen, sich mehr als fünfhundert Meter hoch über einer gigantischen, fast dreißig Kilometer weit ausgedehnten Stadt zu befinden, aus welcher der Turm herausragte, alles beherrschend und überschattend.
Träume ich? tauchte die Frage in seinem Unterbewußtsein auf. Ist es denn möglich, daß sich eine Welt so einfach verändern kann, oder unterliege ich einer Halluzination?
Er zuckte zusammen, als eine Hand sich schwer auf seine Schulter legte. Den Kopf drehend, erkannte er Merlin, der ihm an den Dachrand gefolgt war.
»Du träumst nicht, Zamorra. Dieses Universum gehorcht anderen Gesetzen als denen, die du kennst. Es ist veränderlich. Du siehst das, was du sehen willst. In Wirklichkeit ist alles völlig anders. Es gibt weder die gras- und blumenbewachsene Ebene noch diese gigantische Stadt, über der wir stehen. Sie sind beide nur Wunschgedanken. Und wenn du dir eine weitere Möglichkeit vorstellst - einen gigantischen Ozean zum Beispiel, in dem du schwimmst, dann hast du die besten Chancen, darin zu ertrinken. Du lebst hier von deinen Vorstellungen.«
Zamorra trat von dem gähnenden Abgrund vor ihm zurück. »Und das andere, was ich sah - unsere Versteinerung, der Angriff des Tigers…«
»Illusionen«, lächelte Merlin. »Dein Unterbewußtsein hat diese Gefahren entstehen lassen. Offenbar wolltest du nicht glauben, daß du hier sicher bist, daß keine Gefahren auf dich lauern, so daß du diese Gefahren selbst erzeugtest.«
Zamorra schüttelte langsam den Kopf. »Wozu aber das alles?« Fragend sah er Merlin an.
»Du wirst sehen«, deutete der Zauberer an. »Nur gefestigte, stabile Charaktere, die noch dazu positiv denken, können hier existieren. Negative Existenzen zerstören sich selbst. Deshalb brachte ich dich hierher. Es war der letzte Test, Zamorra. Nun habe ich die Gewißheit.«
Erregung packte den Parapsychologen. »Welche Gewißheit?« stieß er hervor. »Die Gewißheit, daß ich - uneingeschränkt gut bin? Merlin, du…«
Der einstige Ratgeber König Artus’ winkte herrisch ab.
»Nein, Zamorra, aber die Gewißheit, daß du positiv bist. Das uneingeschränkt Gute gibt es im Menschen nicht; in keinem Menschen. Nur eine göttliche Existenz kann uneingeschränkt gut sein, unterliegt aber selbst dabei den Maßstäben der anbetenden Menschen. Du aber -bist nicht Gott… Du bist Zamorra!«
Der Dämonenjäger nickte. Er sah die leuchtenden, brennenden Augen des Zauberers, uralt und doch jung wie die Ewigkeit. Es berührte ihn eigenartig, diesen alten keltischen Magie-Giganten von Gott sprechen zu hören. Und dann, ehe er wußte, was er sagte, kamen schon die Worte über seine Lippen: »Du glaubst an Gott?«
Merlin musterte ihn schweigend, dann streckte er plötzlich die Hand aus und ergriff Zamorras Arm.
»Was ist Gott?« fragte er. »Ich kann und darf es dir nicht sagen. Es ist mir von einer höheren Macht verboten, davon zu sprechen. Ich sagte schon zuviel, es kann mich meine Existenz kosten - oder zumindest meine Wandlung zu einem…«
Er stockte abrupt und wandte sich ab. Seine Hand glitt von Zamorras Oberarm und sank schlaff herab. Der Parapsychologe atmete tief ein.
»Merlin…« flüsterte er, während seine Gedanken rasten. Was hatte Merlin diesmal andeuten wollen? Einen Wandlungsprozeß zu einem… göttlichen Wesen?
Abrupt fuhr Merlin herum, der in diesem Augenblick Zamorras Gedanken gelesen haben mußte.
»Denke niemals mehr daran!«
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