056 - Der Werwolf
zwei Gläser, dann ging er, ohne die Zeitung angerührt oder den Fernseher eingeschaltet zu haben, ins Bett. Morgen mußte er etwas früher aufstehen, weil wichtige Arbeiten auf ihn warteten.
In dieser Nacht schlief er sehr schlecht, und von vier bis fünf Uhr lag er wach. Die Unruhe trieb ihn schließlich aus dem Bett und hinunter in die Metzgerei.
Franke fand die Eisenstange, hob sie auf und begann seinen Rundgang. Er sah die Reifenspuren des Polizeiwagens, seine eigenen Fußabdrücke und, auf dem Rasen vor dem Metzgereifenster, die Spuren des Wolfes. Er konnte erkennen, an welcher Stelle sich das Tier bei seinem ersten Sprung vom Boden weggeschnellt hatte.
Der Mann ging weiter. Am Holzstoß vorbei, zwischen dem Schlachthaus und der Werkstatt hindurch, über den nassen Rasen. Kälte drang durch seine Sohlen.
„Den verdammten Schuppen reiße ich noch vor dem ersten Schnee ab!“ murmelte Hartmut und ging an dem niedrigen, schiefen Holzhaus vorbei, in dem er in den ersten Jahren seine rostigen Autos abgestellt hatte. Ein Dachziegel klapperte, ein anderer fiel scheppernd herunter.
Er blickte hoch, duckte sich instinktiv und bemerkte in diesem Augenblick das Tier, das sich bereits im Sprung befand. Der Wolf hatte, als er sich von oben auf Hartmut stürzte, ein paar Schindeln losgetreten.
Ehe Franke reagieren konnte – nur sein Arm zuckte mit der Stange aufwärts – prallte der schwere Körper gegen ihn. Der Mann rollte nach links, rutschte aus und fiel mitten in die Brennesseln hinein. Während er in panischer Furcht versuchte, das Tier von seiner rechten Seite abzuschütteln und nach oben griff, um die Kehle der Bestie zu erreichen, biß der Wolf zu.
Die scharfen Reißzähne bohrten sich in den Adamsapfel und die Knochen der Nackenwirbel. Wie ein riesiges Messer zuckte der Schmerz durch den ganzen Körper des Mannes.
Hartmut versuchte zu schreien, aber die Kiefer umschlossen seinen Hals wie eine eiserne Klammer. Seine Fäuste schlugen seitlich gegen Fell und Knochen, dann verkrallten sich seine Finger in die zottigen Haare.
Vor den Augen des Metzgers begann es dunkel zu werden. Dennoch gelang es ihm, sich blind suchend bis zum Hals des Tieres vorzutasten und zuzudrücken. Er hatte gewaltige Kräfte in seinen Pranken, aber sie reichten nicht aus, das Tier abzuschütteln.
Der Wolf wütete grausam. Er tobte seinen langangestauten Haß aus, und er ließ sich Zeit dazu. Endlich blieb er breitbeinig über seinem Opfer stehen und betrachtete mit funkelnden Augen das Gesicht des sterbenden Bruders. Langsam wurde es weiß, im gleichen Maß, wie das Blut vom Herzen aus dem Körper gepumpt wurde. Ein Gefühl höchsten Triumphes erfüllte die schwarze Bestie, die sich wenig später gleichgültig entfernte.
Die Suchaktion, die nach Auffinden der gräßlich zugerichteten Leiche Hartmut Frankes angesetzt wurde, verlief ergebnislos.
Alle Zeitungen berichteten mit fettgedruckten Überschriften vom Killerwolf. Seine Lebensgeschichte wurde erzählt, und daran knüpfte sich die Empfehlung, in den gefährdeten Gebieten so vorsichtig wie möglich zu sein.
Das Radio warnte ebenfalls. Die Bevölkerung erfuhr die tragische Geschichte einer Familie, die in eine mittelalterlich und phantastisch anmutende Serie von Morden und Mordversuchen verwickelt war.
Das Fernsehen brachte Aufnahmen von den verschiedenen Tatorten, und alle Beteiligten wurden mit aller Deutlichkeit daran erinnert, daß sie sich noch immer in Lebensgefahr befanden.
Eine Reihe von Tagen verging in quälender Ungewißheit, doch niemand bekam den schwarzen Wolf zu Gesicht.
„Sie verlangen doch wohl nicht von mir, daß ich an Ihre Werwolfgeschichte glaube?“ fragte Kriminalkommissar Hartmann. Er blickte skeptisch zu Gerd Becker hinüber, und warf sein noch halb glimmendes Streichholz in den Aschenbecher. „Während meiner ganzen Berufszeit – und sie dauert schon eine Handvoll Jahre – ist mir ein derartiger Fall noch nicht untergekommen!“
Es war eigentlich eine makabre Szene. Die beiden am meisten gefährdeten Personen saßen hier in der Stadtwohnung des Arztes. Ihr Gesprächspartner war der Chef der Mordkommission, besser gesagt, der Verantwortliche für die Einsätze gegen den schwarzen Killerwolf. Selbst ihm gaben die seltsamen Vorkommnisse eine Menge Rätsel auf.
„Ich glaube selbst nicht daran“, war die ruhige Antwort Doktor Beckers. „Ich versuche nur, mir vorzustellen, ob es einen Zusammenhang gibt zwischen einem
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