056 - Der Werwolf
Todesliste, Doktor. Wer steht Ihrer Ansicht nach darauf?“
„Zuerst Frankes Frau. Barbara ist außerordentlich gefährdet. Sehen Sie – wir haben uns kennengelernt, nachdem Franke einige akute Zeichen seiner Krankheit zeigte. Barbara war schon damals drauf und dran, ihm davonzulaufen. Wir trafen uns zufällig hier im Viertel, in einem italienischen Restaurant an der Ecke.
In ihrer Gegenwart beschuldigte Franke mich, ihm die Frau weggenommen zu haben. Also muß auch ich seine Rache fürchten.
Und schließlich sein Vater. Er haßte ihn, weil er von ihm abhängig war. Sein alter Herr ist eine ziemlich patriarchalische Figur – etwas schwierig – und in der Arbeit ließ er sich von Christian weder dreinreden noch etwas vormachen. Ihn hat Christian vermutlich als letztes Opfer vorgesehen, gewissermaßen als Krönung seiner Racheaktionen.“
Hartmann hob die Hand und stieß verblüfft hervor: „Sie glauben tatsächlich, daß der Wolf diejenigen Menschen umbringt oder umbringen will, die der Patient gehaßt hat?“
„Haben Sie eine bessere Erklärung, Herr Hartmann?“
Der Kommissar senkte den Kopf.
„Weiter!“ sagte der Arzt. Er schien genau zu wissen, wovon er sprach. „Barbara, ich, der Vater und der Bankdirektor. Delius ist, das sollten Sie wissen, eine starke Bezugsperson. Er ähnelt verblüffend Franke senior.“
„Es ist mir niemals aufgefallen“, schaltete sich Barbara ein und streichelte ihren Hund, der wie ein Plüschtier zusammengerollt in einem Sessel lag. „Jetzt, wo du es sagst, begreife ich es. Du hast recht. Er ist tatsächlich meinem Schwiegervater sehr ähnlich.“
Sie schwiegen.
Die Wohnung lag im obersten Stock des Hauses, also rund zwanzig Meter über dem Boden. Trotzdem waren die Fenster geschlossen und die Jalousien heruntergelassen.
„Ich habe mir freigeben lassen. Es war schwierig, aber morgen und übermorgen bin ich hier!“ sagte Gerd leise.
Hartmann stand auf, nahm sein Glas mit und ging hinüber zur Couch, betrachtete schweigend die kleine Sammlung alter Faustfeuerwaffen und Dolche. Wenn er bemerkte, daß zwei der geschmiedeten Zierhaken leer waren, dann sagte er jedenfalls nichts.
„Und dann ist Sonntag. Das sind drei Tage. Rechnen Sie damit, daß der Wolf in diesen Tagen etwas unternimmt?“
Gerd nickte. „Ich rechne mit allem!“ sagte er.
Hartmann drehte sich herum und sagte: „Ich werde zwei Funkstreifen hier im Viertel stationieren. Direktor Delius wohnt etwa zwei Kilometer von hier entfernt in einer Villa. Die Wagen sollen also ständig patrouillieren und nötigenfalls eingreifen. Wundern Sie sich nicht darüber, aber vielleicht fühlen Sie sich etwas sicherer.“
„In Ordnung!“ entgegnete Gerd. Er sah, wie Barbara vor Angst zitterte. Sie schien erst jetzt zu spüren, wie ernst die Sache war. „Daß Sie den Namen Delius erwähnten, beruhigt mich.“
„Ich werde ihn morgen verständigen.“
„Ausgezeichnet.“
Hartmann trank den letzten Rest Kognak aus und stellte das Glas ab. Dann drückte er seine Zigarette aus und blieb vor Barbara stehen.
„Ich wünschte, wir hätten uns bei anderer Gelegenheit kennengelernt!“ sagte er und ergriff ihre Hand. „Auf Wiedersehen.“
„Auf Wiedersehen, Herr Hartmann.“
Gerd brachte ihn zur Tür. Der Kommissar registrierte verwundert, daß die schwere Sperrkette eingehängt war.
„Belagerungszustand!“ knurrte Hartmann.
„Ich wäre froh, wenn alles vorbei wäre!“ sagte Gerd und schüttelte die Hand des Kriminalbeamten.
„Ich auch!“
Barbara löste sich langsam aus der Umarmung des Geliebten.
„Du hast den Sekt vergessen. Es ist keiner im Kühlschrank.“
Er küßte ihre Nasenspitze und antwortete: „Richtig. Außerdem muß der Hund Gassi. Holen wir ein paar Flaschen aus deiner Wohnung?“
„Ja. Aber …“
Er zuckte die Schultern und ging hinüber zu seinem kleinen Renaissanceschreibtisch. Knarrend zog er die Schublade auf und griff hinein.
„Wir nehmen meinen Wagen. Er ist in der Tiefgarage. Dasselbe machen wir bei dir. Sozusagen versiegelter Transport!“
„Gut. Ich habe nämlich Angst, auch nur einen Schritt vors Haus zu tun. Was hast du da in der Hand?“
Gerd hob die Waffe näher ins Licht der Stehlampe.
„Einen uralten Revolver. Er kracht fürchterlich und ist auf zehn Meter gerade noch wirksam. Mit Spezialmunition. Dafür brauche ich nicht einmal einen Waffenschein.“
„Damit willst du den Wolf …?“
„Nötigenfalls schon!“ sagte er. „Komm, laß uns gehen.
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