056 - Der Werwolf
Es ist spät.“
Sie nahmen den Lift in die kleine Tiefgarage. Gerd brauchte nur den Schlüssel neben dem Tor herumzudrehen. Dazu mußte er lediglich das Wagenfenster herunterkurbeln. Er fuhr die Schräge hinauf, bog in die stille, nächtliche Verbindungsstraße ein und rollte langsam durch die kleinen Lichtkreise der Peitschenleuchten, die durch die Bäume strahlten.
Gerd blendete mehrmals auf und ab, aber sie sahen nichts als geparkte Autos, deren Dächer, Motorhauben und Scheiben stumpf vom Tau oder Reif waren. Dann bog Gerd in die Einfahrt des Hauses ein, in dem Barbara wohnte.
„Der Hund!“ erinnerte er.
Aus alter Gewohnheit öffnete Barbara die Tür des Wagens, und Wanze, so hatte sie den Zwergpudel getauft, sprang hinaus und rannte auf den Rasen vor dem Haus zu.
Gerd schaltete sofort. Er beugte sich hinüber, riß die Wagentür wieder zu und drückte auf den Sicherungsknopf.
„Entschuldige“, sagte sie. „Ich habe nicht daran gedacht.“
Verlegen sahen sie sich an. Die Furcht vor dem Wolf diktierte jetzt bereits die unbedeutendsten Gesten und Handlungen.
Der Pudel rannte hin und her, drehte sich im Kreis und blieb dann plötzlich stehen. Er blickte rechts am Wagen vorbei. Dann stieß er ein hohes, jaulendes Wimmern aus.
Über die Straße, kaum sichtbar, kam ein schwarzer Schatten gerast. Er zischte zwischen den Stoßstangen zweier Wagen hindurch, sprang über den Rasen und stürzte sich, ohne langsamer zu werden, auf den kleinen Hund. Die Kiefer klappten zu. Das Heulen des Pudels riß ab, und der Wolf rannte, den Nacken des Tieres zwischen den Zähnen, eine enge Kurve.
„Der Wolf! Da ist er!“ rief Gerd. Nur nicht die Nerven verlieren. Er schaltete den Rückwärtsgang ein. Der Motor heulte auf. Mit knirschenden Reifen schoß der Wagen auf die Straße zurück, wurde ruckartig abgebremst und raste dann, rutschend und schlingernd, vorwärts.
Die Scheinwerfer erfaßten den Wolf, der eben wieder zwischen den geparkten Wagen heraussprang und den Kopf hin und her warf. Der Pudel war nichts anderes als ein kleines, hilflos schlingerndes Bündel.
Gerd trat das Gaspedal voll durch. Die Augen des Wolfes leuchteten auf wie die reflektierenden Felder der Straßenbegrenzungspfähle. Das Zeichen auf dem Kühler zielte genau auf die schwarze Bestie, die jetzt über die Straße rannte.
Der äußerste linke Punkt der Stoßstange erwischte die Bestie am Hinterlauf oder am Schenkel. Das Tier wurde zur Seite geschleudert, aber es ließ den Pudel nicht los. Drei, vier Sprünge brachten den Wolf in den Schatten, dann durch die Büsche.
Er war verschwunden.
Gerd bremste und griff nach dem Revolver, aber es war sinnlos, die kostbaren Kugeln ohne jeden Erfolg in die Sträucher abzufeuern.
„Verdammt!“ sagte er und blickte die junge Frau an. „Verdammt! Er war also doch da!“
„Gerd“, meinte sie tonlos. „Der Hund! Wanze! Was sollen wir tun?“
Er schüttelte bedauernd den Kopf.
„Nichts. Wenn wir ihn suchen, überfällt uns das Untier! Der Hund ist bestimmt tot. Der Wolf hat ihm das Genick zerbissen oder zerbrochen. Vermutlich findest du Wanze morgen vor deiner Tür. Jedenfalls werden wir den Beamten Bescheid sagen. Und den Sekt holen wir trotzdem.“
Vier Uhr. Eben noch hatte der Sprecher die letzten Nachrichten verlesen. Barbara streckte die Hand nach dem schweren Transistorgerät aus, das neben dem Bett stand. Das Licht der Skala erlosch.
Barbara setzte sich auf und zog die Beine gegen die Brust»verschränkte die Arme vor den Knien und sah zu Gerd hinunter. Er schlief mit ruhigen Atemzügen, aber sein Gesicht zeigte einen verkniffenen Zug.
Mein Mann – ein Werwolf. Ich glaube, Gerd hat recht.
Warum begreife ich erst jetzt, daß wir in Todesgefahr sind? Ich hätte es besser wissen sollen!
Damals, als Christian mich das erste Mal schlug, zu dieser Zeit fing alles an. Sie hatte nie verstanden, weshalb er sich so merkwürdig benahm, bis ihr ganz allmählich klar wurde, daß ihr Mann nicht mehr normal sein konnte. War es seine Krankheit, die ihn befähigte, gewissermaßen in eine zweite Haut zu schlüpfen und in Gestalt eines Wolfes ein zweites Mal zu leben?
Barbara glitt vom Bett, hinüber zum Tischchen. Es war noch ein Rest in der Sektflasche. Langsam, um keinen Lärm zu machen, drehte sie den Korken heraus und füllte das große Glas. Einen Augenblick lang blieb sie vor dem großen Fenster stehen; eine schlanke Silhouette mit knabenhaften Hüften, langen Beinen und aufregenden Brüsten. Sie
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