056 - Der Werwolf
kranken Gehirn und übernatürlichen Ereignissen solcher Art, wie wir sie seit Tagen erleben!“
Es war zwei Tage nach der Beisetzung von Hartmut Franke. Gestern hatte Barbara an Marthas Grab gestanden, und nach wie vor befanden sie sich im Würgegriff der Angst um ihr Leben.
Nach einer Weile fuhr Gerd fort: „Ich habe Ihnen alles berichtet, was ich über den Patienten weiß, Herr Hartmann. Sie müssen zugeben, daß dies keine Zufälle mehr sein können. Ich habe den ganzen Tag mit Geisteskranken zu tun, mit klinischen Fällen. Ich weiß, daß der menschliche Verstand die seltsamsten Irrwege geht. Ich selbst werde jedenfalls kein Risiko eingehen!“
„Wie wollen Sie sich dagegen wehren, vom Wolf angegriffen zu werden? Wir müssen damit rechnen, daß er in die Stadt eindringt und hier Angst und Schrecken verbreitet!“
Barbara sagte leise, mit einer Stimme, die ihre Erregung verriet: „Christian weiß natürlich, wo ich wohne. Und vielleicht hat er mich schon hierher verfolgt!“
„Unsinn!“ warf Hartmann in grobem Tonfall ein.
„Wieso?“ fragte Gerd. „Der Patient Franke kannte sogar meine Wohnung und die des Bankdirektors, den er besonders haßte, weil er ihm ein Darlehen für einen italienischen Sportwagen verweigert hatte. Der Direktor lehnte ab, nachdem er mit Franke senior darüber gesprochen hatte.“
„Direktor Delius. Ich kenne ihn ziemlich gut!“ meinte Barbara.
Der Chef der Einsatzgruppe war nicht zufrieden mit dem Verlauf des Gespräches. Er hatte sich mit der Witwe des Mannes hier verabredet, von dem offensichtlich der Mordplan und die Liste der Opfer stammten und sich von einer langen Unterhaltung mit Doktor Becker sehr viel versprochen. Dieser Arzt war der letzte Mensch, der Franke lebend gesehen hatte. Außerdem konnte er die besten Auskünfte über den Geisteszustand des Patienten erteilen. Natürlich glaubte Hartmann keineswegs an die Werwolf-Geschichte. Trotzdem erkannte er, daß der Ausdruck übersinnlich wohl zutreffend war.
„Sie wollen doch nicht etwa Direktor Delius verständigen oder warnen?“ fuhr Hartmann auf.
„Genau das habe ich vor!“ bestätigte Gerd. „Wir versuchten auch Hartmut Franke zu warnen, aber er war offensichtlich nicht aufmerksam genug. Leichtsinnig war er sicher nicht, denn es handelte sich bei ihm um einen eher bedächtigen Mann. Wie Sie mir sagten, trug er außerdem die Eisenstange bei sich, als er gefunden wurde.“
„Die Eisenstange hat sein Leben vielleicht um eine Nacht verlängert, ihn aber nicht gerettet“, meinte der Kommissar nachdenklich. „Ich wäre froh, Sie könnten mir einen Rat geben, Doktor!“
Becker grinste kurz.
„Versuchen Sie’s vielleicht einmal mit mittelalterlichen Rezepten!“ sagte er. „Ich habe jedenfalls zu einem solchen Mittel gegriffen und hoffe, es wirkt. In diesem speziellen Fall müssen wir uns mit dem Übernatürlichen abfinden.“
Hartmann schüttelte den Kopf.
„Wir machen uns lächerlich, Herr Doktor“, warf er ein. „Können Sie sich die Schlagzeilen vorstellen? Polizei beschwört schwarzen Wolf mit Zitaten aus der Edda!“
„Sie brauchen Ihre Versuche ja nicht direkt der Presse mitzuteilen. Es steht jedenfalls fest, daß Ihre kleine Armee bisher nicht einmal den Wolf gesehen, geschweige denn erschossen oder gefangen hat. Kaum zu glauben – in einem modernen Land. Hubschrauber, Mannschaftsfahrzeuge und alle Jäger und Förster des gesamten Gebietes!“
Hartmann zuckte die Schultern.
„Wir haben schließlich auch noch andere Aufgaben. Im Ernst. Was würden Sie an meiner Stelle tun? Ich muß Ihnen ganz ehrlich sagen, daß mir nichts mehr einfällt. Und wenn dieser junge Förster recht hat, der behauptet …“
Barbara sprang auf und ging aufgeregt im Zimmer hin und her.
„Mein Schwager hat mir fast wörtlich gesagt, daß er mit einem massiven Spieß aus Stahl auf den Wolf eingeschlagen hat. Und zwar so stark, daß er jedem Kalb die Knochen zertrümmert haben würde. Mein Schwager war ein riesiger Mann mit Schultern wie ein Schrank. Er hantierte mit Rindervierteln wie unsereiner mit … mit einem Kissen!“
Hartmann sagte halblaut: „Ich könnte Ihnen beiden natürlich ein paar Beamte vor die Tür stellen.“
„Das hilft nicht viel!“ kommentierte Gerd und erinnerte sich daran, wie tückisch ihn der langbeinige Wolf angegrinst hatte.
„Eine dumme Frage“, sagte Hartmann und wippte mit dem Fuß, ein Zeichen seiner Unschlüssigkeit. „Sie sprachen vorher von einer
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