056 - Der Werwolf
zündete sich eine Zigarette an, dann sagte er eindringlich: „Ich könnte jetzt stundenlang mit Ihnen diskutieren, vermutlich würden wir aber zu keinem Schluß kommen. Sie vertreten Ihre Ansicht – ich die meine. Immerhin sind zwei Drittel derjenigen Menschen, denen Franke gedroht hat, bereits tot. Vom Killerwolf umgebracht! Frankes Witwe, sein Vater, Sie und ich sind noch am Leben. Wollen Sie wirklich darauf warten, bis die Bestie auch uns tötet? Ich weiß, wovon ich spreche, Herr Direktor Delius. Und wenn Sie schon auf sich selbst keine Rücksicht nehmen wollen, dann denken Sie wenigstens an Ihre Familie! Sie haben doch Kinder, nicht wahr?“
„Ja, einen Sohn und eine Tochter“, bestätigte Delius. Er war nun doch nachdenklich geworden.
„Wenn schon die Polizei öffentlich vor dem Wolf warnt, dann sollten Sie alles tun, um der Gefahr nach Möglichkeit aus dem Weg zu gehen!“
Direktor Delius hob die Schultern und blickte ratlos in den Garten hinaus. „Und was sollte ich Ihrer Meinung nach tun?“
„Schicken Sie Ihre Frau und die Kinder zu Verwandten. Irgendwohin, wo sie sicher sind, und achten Sie darauf, daß alles verschlossen ist. Haben Sie eine Waffe?“
„Nein. Ich bin kein Jäger.“
Gerd Becker spürte genau, daß sich Delius noch immer nicht dazu durchringen konnte, ihm zu glauben. Es war ja auch verständlich. Dennoch schärfte er dem Mann nochmals ein: „Sie sind in höchster Gefahr, also unternehmen Sie etwas!“
Delius hatte den Arzt beobachtet. Eigentlich sah er nicht aus wie einer, der Sprüche macht. Vielleicht war tatsächlich etwas an seiner Theorie dran. „Sie denken wirklich, ein abgelehntes Darlehen könnte der Grund zu einer so mörderischen Rache sein? Es gibt eine Menge Leute, denen ich Geld verweigern muß, aber die würden doch auch nicht …“
„Bedenken Sie, Franke war Paranoiker!“ erklärte Gerd.
„Schließlich leben wir nicht im Mittelalter, Doktor!“ sagte der Bankier und stand auf, um die Gläser wieder zu füllen.
„Was diesen Fall betrifft, so glaube ich daran!“ erklärte Gerd fest. „Sie können mich ruhig auslachen. Der Wolf hat heute früh Frau Frankes Hund buchstäblich zerfetzt. Vermutlich wird seine Aktivität in diesem Viertel in den nächsten Tagen Schlagzeilen machen.“
„Warum rechnen Sie so fest damit?“ fragte Delius.
Gerd stand auf.
„Morgen nacht ist Vollmond. Im Mittelalter pflegten Werwölfe um diese Zeit besonders rührig zu sein. Darf ich annehmen, daß mein Besuch Sie wenigstens aufgerüttelt hat?“
Delius schob eine Tür auf. Gerd steckte seine rechte Hand zwischen den Säumen seiner Jacke hindurch und nahm den Kolben der Waffe zwischen die Finger.
„Wenn Sie damit fragen wollten, ob ich Angst bekommen habe“, erwiderte Delius, „dann kann ich Ihnen versichern: Ihre Ausführungen haben Eindruck auf mich gemacht!“
Sie schüttelten sich die Hände.
„Warten Sie auf den Anruf von Hartmann“, sagte Gerd zum Abschied. „Er wird Ihnen alle Einzelheiten erzählen. Er sieht das Problem mehr von der realistischen Seite.“
Mit leichtem Grinsen – schließlich konnte sich ein knapp fünfzigjähriger Bankdirektor nicht von solchen Schauergeschichten beeindrucken lassen – meinte Delius: „Vermutlich ist er ein etwas trockenerer Typ als Sie, Doktor. Trotzdem: hat mich sehr gefreut!“
Er blieb stehen und sah Gerd nach, der über den gepflegten Rasen ging und sich die Gegend noch einmal betrachtete.
Gegenüber der Villa stand, mit Efeu und Schlinggewächsen vollständig zugewachsen, eine abbruchreife Ruine. Die Fenster waren eingeworfen worden, eine Tür hing schief in den Angeln. Davor rostete ein uraltes Automobil, von Gestrüpp überwuchert.
Gerd dachte daran, welch ideales Versteck diese Ruine für den Wolf sein konnte. Dort wagte sich sicherlich niemand hinein, weil ihm das Dach auf den Kopf krachen konnte.
Gerd hörte, wie hinter ihm die Pforte ins Schloß fiel.
Er umfaßte den Griff der Waffe, überquerte die Straße und fühlte sich erst sicher, als er im Inneren des schützenden Wagens saß.
Dr. Becker ließ die Maschine an, wendete und fuhr zurück. Drei Kreuzungen weiter, keine zweihundert Meter von seiner Wohnung entfernt, sah er zwei Funkstreifenwagen. Eine Gruppe Polizisten stand davor.
Als Gerd bremste, sah er bereits die riesige Blutlache und die Pfotenspuren des Wolfes, die quer über die Straße führten.
Ein Hund lag in der roten Pfütze. Gerd kannte das Tier flüchtig, er hatte es
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