0562 - Mordnacht in Paris
teilte. Die Seine, der Fluß Frankreichs. Viel besungen, gelobt und auch verdammt. Manchmal glitten Lichtreflexe über die Wellen. Dieses Blitzen erreichte auch die Augen des Buckligen. Er wollte es als einen letzten Gruß dieser verdammten Stadt mit auf die Reise in den Tod nehmen.
Der Bucklige beugte sich vor. Er hatte genau an dieser Stelle einen relativ festen Stand bekommen. Den brauchte er auch, um sich abstoßen zu können.
Seltsam – auf einmal schlug sein Herz nicht mehr so heftig. Eine ungewöhnliche Ruhe bemächtigte sich seiner. Die innere Stille übertrug sich auch auf sein Gesicht und gab ihm einen eher sanftmütigen Ausdruck. Verschwunden waren der Haß auf die Welt, auf die Stadt Paris und auf die Menschen, die ihn nur verachtet hatten. Ihm kam es vor, als hätten Engel ihre Arme ausgebreitet, um ihn sicher von einer Welt in die andere zu geleiten. Der Bucklige lächelte, seine Augen bekamen ein schon überirdisches Strahlen.
Alles war so leicht, so wunderbar, so anders.
Genau in dem Augenblick stieß er sich mit beiden Füßen ab!
***
Der Bucklige beschrieb einen Halbbogen. Nicht so flach wie ein Schwimmer vom Startblock, wesentlich höher, eigentlich nicht gut für sein Vorhaben, denn sein Körper würde bestimmt nicht zuerst im Park aufschlagen, sondern an den runden Vorbauten oder kleinen Erkern unterhalb der großen Dachkuppel.
Er fiel, er flog, er schwebte…
Welch ein Schweben!
Der Bucklige hatte das Gefühl, ein Vogel zu sein. Die Zeit war bedeutungslos für ihn geworden, das andere Gefühl hielt ihn voll und ganz umfangen.
Raste er dem Erdboden entgegen?
Quasimodo kam sich nicht so vor. Vielmehr bekam er den Eindruck, getragen zu werden.
Der Wind umrauschte ihn. Er spielte mit dem Körper, der Kleidung, mit den Haaren, und er flüsterte ihm etwas zu. Das Rauschen teilte sich, aus ihm entstanden Stimmen.
Nein, eine Stimme.
Sie sprach und lachte zugleich. »Weshalb willst du dein Leben wegwerfen, Quasimodo? Weshalb?«
»Ich will nicht mehr…«
»Sterben wirst du früh genug.«
Der Bucklige hatte die Augen weit geöffnet. Scharf wie Messer drang der Wind gegen sie, ließ sie tränen und trocknete sie gleichzeitig. Trotz des Falls, der immer länger dauerte und kein Ende zu nehmen schien, mußte der Bucklige die Frage stellen. Er schrie sie gegen den Wind, hinein in die Nacht.
»Wer bist du, der du mit mir sprichst? Bist du ein Engel?«
Der Bucklige hörte ein Lachen. Es erreichte ihn aus allen Richtungen und tobte in seinen Ohren. Er hatte noch nie in seinem Leben ein ähnliches Lachen gehört. Es klang nicht menschlich, obgleich es von einer wohl menschlichen Stimme abgegeben wurde.
Quasimodo fiel weiter.
Er hätte schon längst mit zerschmetterten Knochen auf dem Erdboden liegen müssen, das war nicht geschehen. Irgendeine ihm nicht bekannte Kraft verlängerte künstlich den Flug.
Er schwebte, der Untergrund kam nicht näher, und der Bucklige glaubte an unsichtbare Arme, die ihn hielten.
Dazu zählte er auch das Lachen. Noch immer umgab es ihn. Seine Wellen trugen ihn weiter, ließen ihn schweben, sie hielten ihn, und es verstummte so plötzlich, wie es aufgeklungen war.
»Ein Engel?« Nun hörte er wieder die Stimme und konzentrierte sich auf den Klang.
Bon – sie war menschlich, jedoch modulationslos. Sie hätte einer Frau als auch einem Mann gehören können. Sie war einfach neutral und trotzdem gefährlich.
»Ich war ein Engel, ja, ich war es. Vor einer Zeit, als die Erde noch nicht so aussah wie heute. Damals kämpften die Geister gegeneinander um die Vorherrschaft der Welt. Die Engel, die mehr wollten, lehnten sich auf. Begreifst du nun?«
Der Bucklige begriff und erinnerte sich an die zahlreichen Bilder, die er in seinem Leben gesehen hatte. Einige von ihnen zeigten stets das gleiche Motiv, von den Malern nur in immer anderen Stilrichtungen gemalt.
Der Engel mit dem Flammenschwert, der die Schlange mit seiner Waffe durchbohrte.
Die erste Vernichtung des Bösen und der Sieg des Guten! Die Schlange war auch einmal ein Engel gewesen, bis sie gottgleich sein wollte. Da hatte sie ein anderer Engel, Michael, mit dem Schwert durchbohrt und in die Tiefen der Verdammnis geschickt, wo sie einen neuen Namen bekam.
Der Teufel war es!
Es überkam ihn wie ein Schlag. Plötzlich wußte er, wer mit ihm sprach. »Du bist der Satan!« schrie er in den Wind, die Nacht und in die Finsternis hinein.
»Jaaaa… ich bin der Teufel!« Die Antwort klang ihm voller Stolz
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