0564 - Die Gruft der schwarzen Wölfe
Sie wußte, daß sie das Kraft kosten würde. Körperlich wie geistig. Seit Taran sich nicht mehr in Merlins Stern befand, funktionierte das Amulett auch in dieser Hinsicht nicht mehr so wie einst. Der Aufwand an mentaler Energie für die Zeitschau hatte sich vervielfacht, wollte man einen Blick in die Vergangenheit werfen.
Lieber hätte Nicole auf die Zeitschau verzichtet, vor allem, da sie Fenrir zunächst allein folgen mußte. Sie konnte sich nicht auf die Unterstützung der beiden Männer verlassen, denn Zamorra war verletzt, und Robin mußte sich um ihn kümmern, bevor der Blutverlust zu hoch war.
Nicole hoffte nur, daß der Wolfsbiß nicht auch noch einen unheiligen Keim des Bösen in Zamorra gepflanzt hatte. Sie wollte ihn nicht als Werwolf erleben müssen. Es war schon schlimm genug, daß sie selbst einmal mit schwarzem Blut infiziert worden war. Eine Vampirin war sie gewesen, und nur eine Waldhexe im tiefsten Brasilien hatte sie schließlich von diesem Keim befreien können. Aber etwas war in ihr trotzdem zurückgeblieben - ihre Fähigkeit, die Gedanken anderer Menschen zu lesen…
Damals war es ihr schwergefallen, gegen das Dunkle anzukämpfen. Sie hatte es irgendwie geschafft, und sie wollte einen solchen Kampf Zamorra ersparen. Aber das lag nicht in ihrer Hand. War er wirklich infiziert worden, ließ sich daran so leicht nichts ändern.
Sie versetzte sich in Halbtrance und aktivierte die Zeitschau des Amuletts.
Der stilisierte Drudenfuß im Zentrum der handtellergroßen Silberscheibe veränderte sich. Er wurde zu einer Art Miniatur-Bildschirm, der Nicole die unmittelbare Umgebung zeigte. Daß es dabei ringsum stockdunkel war, spielte keine Rolle, denn in ihrem Trancezustand sah sie das Bild im Amulett so deutlich vor sich, als sei es taghell. Nur der Bildinhalt selbst entsprach der beobachteten Tages- beziehungsweise Nachtzeit.
Langsam steuerte sie das Amulett zurück in die jüngste Vergangenheit - um herauszufinden, was mit Fenrir geschehen war.
***
Fenrir wußte es selbst nicht.
Er konnte sich nicht an das erinnern, was ihm in den letzten Minuten zugestoßen war. Das einzige, was er noch wußte, war, daß der mächtige, schwarze Wolf ihm an die Kehle gefahren war und gerade zubeißen wollte.
Dann war da Dunkelheit.
Und jetzt befand er sich mitten im Wald, an einem ihm unbekannten Ort.
Aber er witterte eine Fährte.
War er dieser Fährte etwa gefolgt? Er roch den übermächtigen Feind, der ihn wider Erwarten nicht getötet hatte. Dies war seine Spur, und Fenrir wußte, er mußte ihr gefolgt sein.
Warum? Warum hatte er das getan? Und warum konnte er sieh jetzt nicht daran erinnern?
Er verharrte. Er mußte sich erst einmal um sich seihst kümmern, nachdem er aus seinem eigenartigen Zustand der Erinnerungslosigkeit wieder erwacht war. Er spürte schmerzende Wunden, überall an seinem Körper. Aber die Blutungen waren nicht lebensgefährlich, solange er sich nicht infizierte und die Wunden sich entzündeten.
Der Gegner war irgendwo weit vor ihm, und die Fährte roch nach sehr schneller Flucht.
Wovor war der Schwarze geflohen?
Bevor Fenrirs Bewußtsein verlosch, waren die Wölfe Zamorra und den anderen überlegen gewesen. Fenrir hoffte, daß seine Freunde und auch der Polizist den Kampf irgendwie überstanden hatten. Gerade der Polizist, ihn konnte man doch so schön ärgern…
Fenrir zögerte. Sollte er umkehren und schauen, was mit seinen Freunden war? Oder der Spur des Schwarzen folgen?
Er entschied sich für letzteres. Waren Zamorra und die anderen verletzt oder tot, konnte Fenrir ihnen ohnehin nicht helfen. Er konnte kein Funkgerät bedienen, er konnte keine Wunden versorgen, er konnte das Auto nicht lenken. Er konnte höchstens nach Lyon laufen, um Hilfe zu holen - aber wem sollte er sich dort verständlich machen?
Für die anderen Menschen war er nichts anderes als ein Wolf, momentan sogar ein ziemlich räudiger Wolf, so wie er mit seinen Verletzungen aussah. Er konnte höchstens den Park mit den Regenbogenblumen ansteuern, Château Montagne aufsuchen und dort Hilfe erbitten.
Und das alles kostete Zeit, sehr viel Zeit. Denn auch wenn sie mit dem Auto nur gut zehn Minuten vom Stadtrand bis hierher gefahren waren, für vier einsame Pfoten war das doch eine beträchtliche Strecke.
Aber wenn er dem Schwarzen folgte, konnte er möglicherweise etwas über das Versteck des mörderischen Rudels herausfinden. Oder auch über die Herkunft dieser Bestien, die selbst er als Wolf nur als
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