0573 - Der uralte Henker
leben.
Etwas Unheimliches hatte das Innere dieser kleinen Klosterkapelle schon an sich.
Ich war sehr sensibel für diese Dinge und spürte auf meiner Haut ein Kribbeln.
Die Mönche knieten auf den harten Bänken. Noch waren sie im stummen Gebet versunken, was sich sehr bald änderte, denn Bruder Ricardo übernahm das Wort.
Er sprach mit schwerer Stimme, als würde es ihm schwerfallen.
Und er redete über den Tod des Abtes und die Macht der Finsternis.
Die Mönche beteten für ihren Toten.
Pater Ricardo hatte sich etwas abseits hingestellt. Es war keine direkte Kanzel, auf der er stand, mehr eine erhöhte, viereckige Steinplatte, zu der drei Stufen hochführten.
Ich wollte die Gebete nicht stören und verhielt mich dementsprechend still. Nach etwa zehn Minuten änderte sich nicht nur das Verhalten der Mönche.
Der Tag neigte sich immer mehr dem Ende entgegen. Hinter den Fenstern der kleinen Kapelle wurde es finster. Das Licht der Kerzen, nicht mehr von der Helligkeit des Tages gestört, wirkte jetzt heller.
Die Bilder des Kreuzwegs wirkten stärker.
Ich bewegte mich an der Rückseite der Kapelle nach links. Mit der rechten Hand tastete ich über die Mauer, bis die plötzlich ins Leere faßte, ich jedoch mit dem kleinen Finger über einen länglichen, kalten und harten Gegenstand rutschte.
Ich drehte mich um und sah vor mir ein Gitter. Es war an der Vorderseite einer Wandnische eingelassen. Der Raum zwischen den Stäben war breit genug, um eine normale Männerhand hindurchschieben zu können. In der Nische entdeckte ich etwas. Auf versetzt angebrachten Holzregalen standen kugelige Gegenstände. Sie wirkten wie Bälle, doch im Licht einer einsam brennenden Kerze im Nischenhintergrund sah ich, was sie tatsächlich waren.
Totenschädel…
Bleich und gleichzeitig gelblich schimmernd, auch von einer rötlichen Farbe bestrahlt, die vorn in die Höhlen der Augen eindrang und sie mit einem unheimlichen Leuchten erfüllte.
Die Schädel hatten mich tatsächlich erschreckt. Ich blickte genauer hin und sah vor ihnen kleine, beschriftete Schilder stehen. Die Mönche würde ich in ihrer Andacht bestimmt nicht stören, wenn ich die Schilder anleuchtete.
Der Strahl meiner Bleistiftleuchte tupfte gegen sie, und so konnte ich auch die Namen auf den Schildern lesen.
Sie sagten mir nichts. Im Gegensatz zu den Mönchen, denn ich nahm an, daß es die Gebeine der Äbte waren, die man hier in dieser Nische aufbewahrte. Zumindest die Schädel, denn andere Knochenreste konnte ich nicht sehen, auch nicht, als ich die Nische ausleuchtete.
Eine zweite Nische war nicht in die Wand gebaut worden, eben nur diese eine.
So etwas gab es öfter in den Bergen, daß die Menschen die Überreste ihrer Toten in die Wandnischen steckten.
Die Gebete der Mönche waren verstummt. Ich wußte, wie es weitergehen würde. Bernardo hatte von den Chorälen und Gesängen gesprochen, die das kleine Gotteshaus erfüllen sollten.
Ein noch junger Mönch trat an ein Pult heran. Er hielt eine brennende Kerze in der Hand, stellte sie ab und konnte in ihrem Lichtschein den Text und die Noten lesen, die auf dem Blatt vor ihm aufgezeichnet waren.
Er hob die Arme und legte auch den Kopf zurück.
Nach den Sekunden der Konzentration begann er mit seinem schwermütigen Gesang.
Es war eine mir fremde Klangform, zu Beginn nicht sehr melodiös, man mußte sich erst daran gewöhnen.
Der Tenor des Vorsängers verstummte jeweils nach einer bestimmten Verslänge. Danach wiederholten die Mönche das Vorgesungene. Sie hatten sich jetzt aufgestellt, und das Innere der Kirche wurde von ihrem manchmal schauerlich anzuhörenden Gesang erfüllt.
Einen Fremden wie mich machte der Gesang zwar nicht an, er beeindruckte mich jedoch. Die Menschen hier lebten in einer anderen Welt. Für sie war das Absingen der Choräle so etwas wie eine Erholung und eine innere Bereicherung zum Aufbau der Seele.
Weshalb flackerten die Lichter?
Lag es am Atmen der Mönche, daß sich die Kerzenflammen plötzlich bewegten und dabei von einer Seite zur anderen schlugen, bevor sie sich wieder aufrichteten und das Spiel von vorn begann?
Nein…
Mißtrauen keimte in mir hoch. Die Mönche ließen sich durch das Tanzen der Flammen nicht aus ihrem Rhythmus bringen. Ich schielte zur Tür. Sie war geschlossen. Dort hätte kein Durchzug entstehen können.
Dennoch war etwas geschehen. Eine andere Kraft hatte von der Kapelle Besitz ergriffen.
Die Kerzen flackerten stärker. Sie schufen huschende
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