0575 - Vampir-Gespenster
Beinahe andächtig legte er die Klinge zur Seite und nickte in Richards Richtung. »Ich bin nicht tot!« flüsterte er. »Ich kann nicht sterben, weil ich schon tot bin, verstehst du?«
»N… ein …«
»Schau her!« Der Fremde beugte sich noch tiefer. Diesmal grinste er – und zeigte seine Zähne.
Normal gewachsen, bis auf zwei markante Unterschiede. Aus dem Oberkiefer des Unheimlichen wuchsen sie wie kleine, gekrümmte Dolche hervor. Schlagartig wurde Richard alles klar. Dieser Mann war tatsächlich kein normaler Mensch, er hatte nicht gelogen. Er war ein Blutsauger, ein Vampir, ein Untoter.
»Du… du bist ein … Vampir?«
»Ja, mein Freund.«
»Dann willst du…«
»Dich will ich. Das habe ich dir schon gesagt. Ich will dich und natürlich dein Blut.«
In Richard explodierte etwas. Es war die Sperre, die bisher seinen Widerstand aufgehalten hatte. Plötzlich drehte er durch. Er wollte seine Hände um den Hals des Blutsaugers schließen, irgend etwas tun, nur nicht liegenbleiben.
Richard hatte Pech. Nicht daß er zu langsam gewesen wäre, er bekam die Arme nur nicht rasch genug unter der Decke hervor. Der Blutsauger war schneller, viel schneller.
Er wickelte um seine Finger die grauen Locken des Mannes und schob den Kopf zurück. Die hintere Seite wurde tief in die Rolle gepreßt, auf die Richard seinen Kopf gebettet hatte.
Dann war das bleiche Gesicht nahe bei ihm, sehr nahe, zu nahe – und der Biß traf die Halsschlagader!
Richard bäumte sich noch einmal auf. Unter der Decke bewegten sich seine Füße in einer rasanten Hektik.
Er hörte komischerweise ein singendes Schmatzen dicht an seinem linken Ohr. Das Blut pulsierte in den Rachen.
Er labte sich, er fand wieder die Stärke, die er für seine Pläne brauchte.
Und Richard sank hinein in den tiefen, schwarzen Strudel. Er beendete sein Menschsein, um später in einer anderen Existenz wieder zu erwachen…
***
Die Anhöhe – endlich!
Auf dem Kutschbock atmete die dunkelhaarige Frau auf. Das Kopftuch hatte ihr der Wind weggeputzt, aber nicht den Schweiß vertreiben können, der die Haare zu feuchten, nicht gewollten Zöpfen zusammenflocht. Der Mantel war ihr zu warm geworden, sie hütete sich jedoch davor, ihn auszuziehen. Der Wind auf den Höhen ging durch und durch, wenn er sich einmal freie Bahn geschaffen hatte.
Die Frau stellte die Bremse fest und stemmte ihre Füße gegen das schräge Brett. Dann sank sie zurück, schloß die Augen und wollte einfach nur die Stille der Nacht genießen.
Die Pferde standen da mit gesenkten Köpfen und rupften das Gras büschelweise aus dem Boden. Sie kauten mit schmatzenden Geräuschen und schluckten den Brei hinunter.
Schweißflocken hatten an den Flanken gehangen. Sie waren mittlerweile verschwunden. Die Frau dachte daran, daß sie die Tiere aus dem Geschirr nehmen und festhobbeln mußte, sie war einfach zu müde, um dies zu tun. Zu sehr hatte die lange Fahrt sie geschlaucht.
Ihr Bruder Richard brauchte seine Ruhe, er hatte den gesamten Tag über auf dem Bock gesessen und gefahren. Wie lange sie so gesessen hatte, wußte sie nicht zu sagen. Irgendwann strich sie das pechschwarze Haar zurück, kletterte mit steifen Beinen vom Kutschbock und befreite die beiden braven Tiere von ihrem Geschirr. An den Beinen hobbelte sie die Pferde fest, damit sie nicht weglaufen konnten.
Es war eine gute Gegend, in der sie die restlichen Stunden der Nacht verbringen wollte. Die Anhöhe lag im Schutz einer höheren Hügelkette.
Schnee gab es keinen, denn bis Ende Februar war es viel zu warm gewesen. Selbst in den Alpen hatte sich die weiße Pracht zurückgehalten, und in Schottland war ebenfalls kaum etwas gefallen.
Die Frau schaute auf ihre Uhr.
Es war kurz vor Mitternacht. Unwillkürlich warf sie einen Blick zum düsteren Himmel. Diese Zeit erinnerte sie stets an die Geisterstunde, an den Vollmond und an die unheimlichen Geschichten, die Großmutter früher erzählt hatte, wenn sie zusammen am Feuer des Lagers gesessen hatten und sich so richtig gruseln konnten.
Das lag lange zurück. Die Großmutter war längst gestorben. In einer stürmischen Gewitternacht hatte ein Blitz einen Baum gespalten.
Die herabfallende Hälfte hatte die alte Frau erschlagen.
Die Gedanken schweiften ab wie der Wind, der durch das Haar wehte und mit ihm spielte. Sie schaute mit brennenden Augen gegen das unter ihr liegende Tal, wo vereinzelt Lichtreflexe durch die Finsternis schimmerten wie ein ferner Sternengruß.
Dort lebten
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