0577 - Gebieter der Nacht
Geld. Und vermutlich auch keine Folgeaufträge. So einfach war das.
Jeder Arbeiter und Angestellte konnte zum Arzt gehen und sich krankmelden. Sie als Selbständige konnte das nicht. Jeder Tag, den sie versäumte, kostete sie ein Stück Zukunft. Krank werden konnte sie in ein paar Tagen, wenn sie diese Sache hinter sich hatte.
Sie trat auf den Balkon hinaus.
Ihr Nachbar von gegenüber zeigte sich nicht. Natürlich, auch heute war es nicht die richtige Zeit. Sie hatte ja schon wieder verschlafen.
Das helle Sonnenlicht des späten Vormittags schmerzte!
Sue legte schützend eine Hand über die Augen. Sie hatte Tageslicht noch nie so blendend grell empfunden.
Was war geschehen?
Sie konnte sich dumpf erinnern, daß »er« bei ihr gewesen war. Aber wann?
Und da war noch etwas anderes…
Sie wandte sich um.
Sah die zerschmetterte Glastür zum Wohnzimmer.
Die Splitter waren auf den Balkon hinausgeflogen, und fast wäre sie in das Glas hineingetreten. Daß die Glassplitter hier draußen lagen, besagte doch, daß die Tür von innen her eingeschlagen worden war, das begriff Sues Verstand selbst noch in diesem merkwürdigen Zustand, in dem sie sich befand.
Sie ging zurück ins Schlafzimmer, betrat von dort aus das Wohnzimmer und -
- schrie auf!
Das ganze Zimmer war verwüstet!
Ein erbitterter Kampf mußte hier stattgefunden haben!
Möbel waren zerschlagen, Glas zersplittert. Und in all dem Chaos lag ein Mann.
Sue brauchte ein paar Minuten, bis sie begriff, wer dieser Mann war.
Ihr Nachbar von gegenüber!
Er war tot.
Sie schrie nicht mehr. Sie sah nur noch fassungslos den Toten an. Und sie versuchte sich zu erinnern.
Und jetzt glaubte sie sich zu entsinnen, daß er gestern plötzlich vor ihrer Wohnungstür gestanden hatte. Aber was dann geschehen war, verschwamm in einem blutroten Durcheinander. Es gab keine Details, nur dieses gewaltige Chaos.
Und Blut. So viel Blut…
Hatte er sie bedroht?
Hatte es ihm nicht mehr gereicht, sie morgens bei ihren Gymnastikübungen heimlich zu beobachten? Hatte er plötzlich mehr gewollt?
Hatte sie ihn erschlagen? In Notwehr?
Aber - verdammt! - warum wußte sie nichts davon? Warum konnte sie sich an die Auseinandersetzung und den Kampf nicht erinnern?
»Nein, nein, nein! Das ist wieder einer dieser Alpträume! Ich muß aufwachen, sofort!«
Aber sie war doch schon wach!
Wieder überkam sie das Schwindelgefühl. Sie fühlte sich schwach und müde wie nie zuvor.
Die Augen schließen, einschlafen, alles vergessen… Und wenn sie wieder erwachte, war alles vorbei, und sie konnte ihr Leben ganz normal weiterf ühren!
Aber das ging nicht.
Sie konnte dem Grauen nicht entfliehen, mußte sich der brutalen Wirklichkeit stellen. Ob sie wollte oder nicht…
Sie tappte durch das Chaos zum Telefon. Die Polizei anrufen. Nichts berühren. Vor dem Apparat blieb sie stehen.
Die Polizei?
»Hat der Mann Sie angegriffen? Welchen Grund hatte er dafür? Gymnastikübungen? Auf dem Balkon? Wie waren Sie dabei angezogen, wie sahen diese Übungen aus? Sie haben ihn also provoziert, nicht wahr? Notwehr? Nein, Madam, das war kaltblü tiger Mord!«
Angst krallte sich in ihr fest, wurde immer größer und versuchte sie zu lähmen. Sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug, sich gegen den lähmenden Griff der Angst wehrte. Aber die Panik wurde immer größer.
Keine Polizei!
Sie war doch keine Mörderin!
Oder doch…?
Sie wußte ja nicht mal, was geschehen war. Sie hatte keine Erinnerung an die Geschehnisse der vergangenen Nacht. Keine wirklichen Erinnerungen. Da waren nur diese vagen Bilder.
»Er« war doch hier gewesen! Vielleicht würde »er« ihr dann auch helfen können?
Aber nein, sie wußte ja nicht mal, wie sie ihn erreichen konnte. Selbst an seinen Namen konnte sie sich immer noch nicht erinnern. Sie hatte sich nur ständig nach seiner Rückkehr gesehnt, doch vielleicht war selbst das nur eine Illusion in diesem mörderischen Teufelstanz. Vielleicht bildete sie sich nur ein, daß er hier gewesen war, weil sie es sich so gewünscht hatte.
Vielleicht hatte sie ja tatsächlich ihren Nachbarn umgebracht…?
Daß sie sich nicht mehr daran erinnern konnte, lag dann wahrscheinlich an einem Verdrängungsmechanismus ihres Unterbewußtseins…
Nein, sie konnte die Polizei nicht rufen!
Selbst, wenn sie tatsächlich unschuldig war - und daran glaubte sie ja nicht mal selbst -, würde man sie tagelang verhören.
Sie konnte doch nicht einfach beim Möbius-Konzern anrufen und sagen: Tut
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