058 - Gänsehaut
Dorian glaubte wirklich, sich nicht zu täuschen: Je näher der Drehbeginn rückte, desto stärker spiegelte sich ein Ausdruck des Triumphes in ihren Augen und Zügen. Warum? Neid wäre eine verständlichere Gefühlsbekundung gewesen, denn die Piccioni hatte ihr ja schließlich die Rolle weggenommen; Marina Ferrera hatte nur noch einen Nebenpart, war praktisch zweite Besetzung. Was ging aber wirklich in ihr vor?
Drei Komparsen verschwanden soeben hinter den Kulissen des täuschend echt aussehenden Amazonas-Urwaldes. Sie – das hatte Lazzerini Dorian und Coco auseinander gesetzt – sollten in das Monster klettern und es lenken.
»Kamera 1 an!«
Auf Machiavellis Kommando hin fiel die Klappe. Es quäkte die obligatorische Hupe, und Stille herrschte im Studio. Nur das feine Surren der Kamera war zu hören.
Der Dämonenkiller beugte sich vor und verfolgte gebannt, was sich nun ereignete.
Laura Piccioni, die im Film später den exotisch klingenden Namen Samanta tragen würde, wand sich in Ketten und stöhnte verzweifelt. Ihre Augen waren groß und starrten entsetzt dem Monster entgegen. Es sah wirklich aufreizend aus, wie sie die Beine bewegte und immer wieder völlig sinnlose Versuche unternahm, sich zu befreien.
Dorian blickte kurz zu Marina Ferrera hinüber. Ein höhnisches Lächeln nistete in ihren Mundwinkeln. Es war offenkundig, dass sie der Hauptdarstellerin alles Schlechte der Welt wünschte. Aber da war noch etwas anderes – Boshaftes in ihrem Blick. Wartete die Ferrera nicht auf etwas? Sie war eine attraktive Frau mit neckischen brünetten Locken, zweifellos ein paar Jahre älter als die Piccioni, aber darum nicht weniger berückend; nur der niederträchtige Ausdruck in ihren Augen entstellte ihr Gesicht.
Kamera 1 nahm Laura Piccioni auf, wie sie sich abplagte und mit den schlanken Füßen gegen einen Totenkopf stieß. Der Schädel glitt ins sumpfige Wasser.
»Kamera 2!«, rief Machiavelli. »Das Monster in Bewegung setzen!«
Es raschelte im Dickicht. Schmatzen war zu hören. Schließlich geriet das Wasser des künstlichen Sumpftümpels in Wallung und zischte hoch. Laura Piccioni stieß vorschriftsmäßig einen spitzen Schrei aus.
»Schneller jetzt!«, verlangte Lazzerini. »Das Monster kommt raus und glotzt Samanta gierig an. Schließlich hat es mächtigen Appetit, wie die überall herumliegenden Knochen beweisen.«
Das Ungeheuer begann seinen großen Auftritt. Es war vom Unterholz aus ins Wasser geglitten und dabei von Kamera 2 aufgenommen worden. Jetzt trat wieder Kamera 1 in Aktion und verfolgte, wie sich das scheußliche Gebilde aufrichtete. Drohend glühten die rötlichen Augen. Der Rückenkamm blähte sich, die Hautlappen, die das Maul einsäumten, standen ab, der ganze grüne Schuppenleib schien in ständiger Bewegung zu sein. Das Monster riss das Maul auf. Schreckliche Mörderzähne kamen zum Vorschein. Verhalten grunzend steuerte es auf Laura Piccioni zu, die inzwischen wie von Sinnen schrie.
»Innehalten!«, brüllte Lazzerini. »Das Monster soll sich seine Beute erst mal in aller Ruhe betrachten.«
Das Monster dachte indessen nicht daran, stehen zu bleiben. Fauchend wankte es auf die Gefesselte zu. Es war beängstigend anzusehen, wie echt es wirkte.
»Langsam, langsam!«, schrie Lazzerini. »Seid ihr denn schwerhörig? Der Horroreffekt muss voll ausgekostet werden. Die Zuschauer sollen schließlich später im Kintopp vor Grauen von ihren Plätzen aufspringen.«
Seine Order wurde nicht befolgt. Im Gegenteil. Das Ungeheuer schritt noch rascher aus. Gleich hatte es die Nackte erreicht. Laura Piccioni strampelte mit den Beinen, die Ketten rasselten. Der Ausdruck der Angst, der sich in ihrem verzerrten Gesicht spiegelte, schien mit einem Mal sehr echt zu sein.
Dorian Hunter hatte seinen Klappstuhl verlassen und steuerte auf den Platz des Regisseurs zu. Ein furchtbarer Verdacht war in ihm aufgestiegen.
Lazzerini stand vor seinem Stuhl und fuchtelte mit den Händen herum. »Himmel, macht eure Sache ordentlich oder ich muss die Szene wiederholen lassen! Reizt mich nicht, Leute!«
»Hilfe, Hilfe!«, jammerte Laura Piccioni. »Macht mich frei! Das Biest will mich fressen! O mein Gott!«
»Sie ist großartig«, meinte Bice Valori leise. »Es ist ein Jammer, dass es mit dem Monster heute so schlecht klappt, sonst wäre es eine einmalige Einstellung geworden.«
Am rechten äußeren Ende der Kulissen war plötzlich eine Bewegung wahrzunehmen. Dorian Hunter und die meisten anderen wandten
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