0590 - Ritter Tod
Suko konnte jetzt geradewegs auf die Gestalt zufahren.
Es kam darauf an, wer von beiden die besseren Nerven hatte.
Suko rechnete sich dabei die größeren Chancen aus. Der Ritter würde bestimmt keinen Zusammenprall riskieren. Den wollte Suko auch vermeiden, denn der BMW war ihm doch sehr ans Herz gewachsen, auch wenn er den Wagen nicht selbst bezahlt und in einem Preisausschreiben gewonnen hatte.
Sollte der Reiter sich vom Pferd werfen und auf die Kühlerhaube fallen, gab es Schrott.
Das Pferd bewegte sich im Schritt. Auch Suko war wieder vom Gas gegangen. Was sich da abspielte, war kaum zu erklären.
Wer hatte die besseren Nerven?
Neben ihm saß Napoleon und lachte leise vor sich hin, zudem summte er irgendeine Melodie. Da hielt der Reiter sein Pferd an.
Zischend atmete Suko aus. Die Distanz war nicht mehr sehr groß.
Ungefähr zehn Schritte. Für Sukos Geschmack stand der Reiter etwas ungünstig, weil er wieder vom Schein der Sonne geblendet wurde. Er hatte den Kopf vorgebeugt, und das Gesicht unter dem hochgeklappten Helmvisier geriet dadurch in den Schatten, so dass Suko es erkennen konnte.
Er hatte das Gefühl, von einem Tiefschlag erwischt zu werden.
Was er da sah, konnte man als den absoluten Irrsinn oder Wahnsinn bezeichnen. Der mittelalterliche Ritter war kein Geringerer als sein bester Freund John Sinclair…
***
Suko fühlte sich auf einmal wie auf einer Insel, wo die Zeit nicht mehr galt. Obwohl er nur wenige Sekunden unbeweglich hinter dem Lenkrad hockte, war es ihm, als hätte er Stunden in dieser Haltung verbracht. Was er hier erlebte, war einfach ungeheuerlich.
Aber er sah es nicht als einen Scherz an.
Freiwillig hatte sich John bestimmt nicht verkleidet, er musste dazu gezwungen worden sein.
Suko konzentrierte sich auf das Gesicht seines Freundes. Es sah normal aus und wirkte trotzdem anders. Da war ein fremder Ausdruck, ein sehr düsterer, ähnlich einem Schatten, der sich über die Züge gelegt hatte.
Suko suchte nicht nach langen Erklärungen, Theorie hatte hier keinen Sinn. Er wollte, er musste handeln und mit John Sinclair reden. Vielleicht konnte John ihm sagen, was das alles zu bedeuten hatte.
Zuvor wandte er sich an Napoleon. »Wissen Sie, wer da vor uns steht, Meister?«
»Ja. Es ist der Knight of Gorman. So hieß er offiziell, aber man hat ihm noch einen anderen Namen gegeben – Ritter Tod.«
»Ritter Tod? Weshalb?«
Bevor Napoleon sprach, bewegte er seine Stirn und legte sie in Falten. »Weil er so gefürchtet war wie der Tod. Er hat schrecklich aufgeräumt. Wo er erschien, hinterließ er Blutbäder. Er war ein Einzelgänger, ein Räuber und Mörder.«
»Aha.«
»Jetzt ist er wieder frei!« flüsterte Napoleon. »Das ist außergewöhnlich, würde ich sagen.«
»Stimmt«, sagte Suko und löste den Sicherheitsgurt, bevor er die rechte Tür aufstieß und den Wagen verließ. Er schloss sie nicht ganz. Komisch war ihm schon, als er allein auf die Gestalt zuschritt, die Napoleon als Ritter Tod bezeichnet hatte.
Sein Magen zog sich dabei zusammen. Er schwitzte stark. Hitzewellen stiegen hoch, das jedoch lag nicht am Schein der Sonne, diese Hitze kam von innen.
John Sinclair rührte sich nicht. Er hockte unbeweglich auf seinem Reittier. Unter dem hochgeklappten Visier schimmerte sein Gesicht als bleiche Fläche. Unter den Augen hatten sich Schweißperlen angesammelt und rannen nach unten.
Suko ging nicht schnell. Er hatte sogar die Hand ausgestreckt, eine friedliche Geste, doch der Ritter traf keinerlei Anstalten, ihm ebenfalls die Hand zu reichen, die in einem Handschuh steckte. Unbeweglich hockte er auf seinem starken Pferd und ließ den Inspektor näher an sich herankommen.
Etwa einen halben Schritt vom Kopf des Pferdes und dabei leicht versetzt blieb der Inspektor stehen. Um in das Gesicht des Ritters schauen zu können, musste er den Kopf in den Nacken legen.
Sein Freund rührte sich nicht. Er starrte Suko nur an. Der Blick seiner Augen wirkte kalt und feindselig. Der Inspektor zeigte ein Lächeln. So etwas konnte nie schaden. »Hallo, John!« sagte er.
Ritter Tod gab keine Antwort.
Suko sprach weiter. »He, alter Junge, willst oder kannst du nicht reden? Was ist los?«
»Wer bist du?«
Suko schluckte. Nicht allein über die Frage zeigte er sich verwundert, auch wegen des Stimmenklangs, denn der hatte sich anders angehört als bei dem echten John Sinclair. Zwar konnte er die Stimme noch irgendwie identifizieren, aber sie hatte doch eine andere Modulation. Sie
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