0593 - Das Zeichen
starke Bedenken besaß. Bei mir wuchsen die Vorwürfe darüber, möglicherweise etwas falsch gemacht zu haben.
Im Haus trocknete der Schweiß sehr schnell. Die Wärme drang nicht so rasch durch die dicke Mauer, so hielt sich die Kühle innerhalb der Wände länger.
Den Rabbi fand ich nicht. Als ich sein Arbeitszimmer erreichte, stand ich als einzige Person darin. Sehr genau schaute ich mich um und entdeckte eine offene Tür.
Bevor ich sie durchschreiten konnte, hörte ich die schleppenden Schritte, die an Lautstärke zunahmen. Dann erschien der Rabbi innerhalb des Rechtecks.
Er sah aus wie ein gebrochener Mann. Sein Blick war ins Leere gerichtet, das Gesicht zeigte eine Farbe wie kaltes Fett, die Augen glänzten fiebrig, und auf der Haut lag der Schweiß wie Lehm.
Er schaute mich an. »Ich bin nicht okay«, sagte er leise. »Sie sind es sicherlich auch nicht.«
»Das stimmt.«
Dann nickte er. »Es tut mir leid, Mr. Sinclair. Es tut mir wirklich leid, aber das habe ich nicht wissen können. Sie… sie ist schon lange bei uns, aber sie hat mich all die Jahre über stark getäuscht, und zwar so gut, daß ich nichts gemerkt habe. Ein Wahnsinn ist das! Sie wissen, von wem ich rede?«
»Sarah, nicht?«
»Genau. Es ist mir einfach unbegreiflich geblieben, wie sie sich dermaßen ändern konnte. Meine Familie und ich haben ihr keinen Grund gegeben. Wir behandelten sie immer wie ein Mitglied der Familie, besonders stark nach dem Tod meiner Frau, wenn Sie verstehen?«
»Natürlich.«
Er drückte die Hände gegen seinen Magen. »Himmel, so übel ist es noch nie gewesen. Jedenfalls kann ich mich daran nicht erinnern. Wie dem auch sei – habe ich verloren?«
»Vielleicht eine Schlacht.«
Er winkte mir entgegen, ich ging auf ihn zu, weil ich befürchtete, daß er fallen würde. So stützte ich ihn ab und brachte ihn zu seinem Schreibtisch, wo er sich auf den Stuhl setzte, etwas Wasser trank und die Weinflasche mit einem bösen Blick bedachte. »Sie hätte uns töten können«, flüsterte er, »ein anderes Gift, und es hätte uns nicht mehr gegeben. Das ist schrecklich.«
»Aber was ist der Grund?«
»Ich wüßte keinen.«
»Vielleicht geht es im Endeffekt um Ihren Sohn, Rabbi.«
Er drehte den Kopf, weil er mich ansehen wollte. »Mr. Sinclair, daran habe ich ebenfalls gedacht, nur traute ich mich nicht, bei ihm nachzuschauen. Mein Gefühl sagt mir, daß etwas mit ihm geschehen sein muß. Da können Sie lachen, abwinken oder nicht, aber da ist etwas vorhanden, finde ich.«
»Wir wollen gemeinsam hingehen.«
»Ja.« Er stemmte sich hoch. Mir ging es besser, die Übelkeit drückte nicht mehr so stark, deshalb konnte ich ihn auch unterstützen, als er aufstand.
Schwankend stand er da, die Lippen verzogen, scharf Luft holend, sich dann umdrehend.
Ich führte ihn. Seine Schritte waren schleppend. Er weinte plötzlich, als wir die Tür zum Zimmer seines Sohnes erreicht hatten. »Es wird schlimm werden«, erklärte er mir. »Sehr schlimm.«
»Lassen Sie uns nachschauen.«
Er hielt mich fest, bevor ich die Tür aufdrücken konnte. »Nathan besitzt das Zeichen, Mr. Sinclair. Er wird nicht mehr so sein wie früher, glauben Sie mir.«
»Wie dann?«
»Ich weiß es nicht, fürchte mich jedoch vor einer Aufklärung. Aber bitte, gehen wir.«
Ich drückte die Tür nach innen. Mein erster Blick erreichte das Bett. Das Laken war zurückgeschlagen, wie bei jedem Menschen, der sich aus den Federn quälte.
»Nicht da!« ächzte der Rabbi. »Er ist nicht mehr da. Er konnte gehen, er ist weg.«
Ich schwieg, weil der Rabbi den Schock überwinden mußte. Er taumelte an mir vorbei in das Zimmer hinein und ließ sich auf das Bett fallen, wo er liegenblieb und schluchzte.
Auch ich betrat den Raum und stoppte meine Schritte am Kleiderschrank, dessen Türen offenstanden. Ich konnte erkennen, daß dem Schrank Kleidung entnommen worden war. Nathan hatte sich also angezogen und war verschwunden.
Allein?
Noch immer etwas wacklig ging ich durch das Zimmer und suchte nach Spuren, die auf eine zweite Person hingedeutet hätten. Die allerdings gab es nicht. Wenn Sarah bei ihm gewesen war, hatte sie es geschickt verstanden, die Spuren zu verschleiern.
Ich kehrte zu dem Rabbi zurück. Er wirkte wie ein gebrochener Mann, als er so müde wirkend auf der Bettkante saß, Tränen in den Augen, den Blick gesenkt.
»Jetzt kann es passieren!« flüsterte er.
»Was kann passieren?«
Der Rabbi redete, ohne mich anzuschauen. »Es geht um ihn, Mr.
Weitere Kostenlose Bücher