0593 - Das Zeichen
nicht hinein. Dort werden sie beerdigt.«
Sarah winkte ab. »Nimm das nicht so tragisch, mein Junge. Du brauchst keine Bedenken zu haben, da du längst zu einem anderen geworden bist. Nur äußerlich gleichst du noch dem Nathan, den alle kennen. Im Innern jedoch hast du dich gewandelt. Du brauchst nur auf deinen Handballen zu schauen, um erkennen zu können…«
»Ich fühle mich nicht so.«
»Das mußt du, Nathan. Du bist zu einem Engel geworden. Ein Engel, der auch körperlich vorhanden ist. Du wirst den Weg gehen, der dir vorgezeichnet ist, denn alle Schwierigkeiten habe ich schon aus dem Weg geräumt.«
Er schaute sie skeptisch an. Sarah war kleiner als er. Sie ging etwas krumm. In ihrer dunklen, altmodischen Kleidung wirkte sie fast wie eine Hexe. Auch die Finger besaßen etwas Hexenhaftes. Sie waren lang und spitz die Nägel, das spürte auch Nathan, als sie ihre Hand in die seine schob.
»Komm nur weiter, Söhnchen. Du solltest erkennen können, wie gut du bist.«
Das Tor öffnete sie durch einen Druck ihrer freien Hand. Dann zog sie Nathan auf den Friedhof.
Über ihnen veränderte sich der Himmel und nahm allmählich eine graue Farbe an. Die Luft drückte, Wind wehte so gut wie nicht. Die Umgebung stand auf dem Friedhof so still wie ein Gemälde. Er erinnerte Nathan an einen steinernen Garten, wo sich nichts regte.
Die mächtigen Grabsteine grüßten sie stumm und trotzdem lockend, als wollten sie sagen: Keine Sorge, ihr werdet auch noch unter dieser Erde liegen.
Nathan bekam eine Gänsehaut. Er hatte den alten Friedhof nie so recht gemocht, sich aber während seiner langen Krankheit schon fast damit abgefunden, daß er sehr schnell auf diesem Gelände landen würde. Er hielt den Kopf gesenkt, den Blick gegen seine Fußspitzen gerichtet. Der Dunst blieb, er strich durch die Gesichter der beiden einsamen Menschen. Die Haut der Sarah zeigte ein tiefes Muster aus Falten, aber ihre Augen sahen weder müde noch alt aus.
Sie blickten hart, diese Frau wußte genau, was sie tat. Nicht weit von der Synagoge entfernt, wuchs eine verfilzte Hecke mannshoch.
Da gab es kein Durchkommen.
Genau dort, wo sie aufhörte, stand die Gruft.
Ein kleines Mausoleum, errichtet aus hellen Steinen, die im Lauf der langen Jahre grau und moosig geworden waren. Ein Gittertor verwehrte den Zutritt.
Vor dem Tor blieben sie stehen. »Du weißt, wer in dieser Gruft begraben liegt?« fragte die Frau.
Nathan nickte. »Die Rabbis.«
»Zu ihnen wollen wir.«
»Warum?«
Sie lachte leise. »Mein lieber Freund, du bist jetzt ein anderer geworden und hast wahrscheinlich die Chance, mit den Toten sprechen zu können. Durch deine Verwandlung wird es dir gelingen, mit dem Jenseits Kontakt aufzunehmen. Der Tod kann dich nicht mehr schrecken, denn du wirst in der Lage sein, als neuer Anführer heranzuwachsen.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihm ins Ohr flüstern zu können. »Mir blieb ein Kind versagt, aber ich habe mir vorgenommen, dich sehr mächtig zu machen, damit du dich von den anderen abhebst und über den eigentlichen Dingen stehst. Viele werden dich beneiden, viele werden vor dir auf die Knie fallen und es nicht fassen können, daß ein Mensch wie du mit einer derartigen Macht ausgerüstet ist. Aber darüber schaust du hinweg. Als Engel aus dem Reich der Toten trittst du an sie heran und wirst sie auf deine Seite ziehen.«
»Weshalb denn auf meine?«
»Weil du es bist, der die alten Mythen der Kabbala wieder zum Leben erweckt. Man hat sie verstoßen, man hat sie nicht mehr für ernst genommen, die Menschen sind schrecklich geworden. Für viele gelten die Gesetze nicht, aber sie haben sich geirrt, wenn sie erst ihren neuen Anführer erleben, der seine Gebote mit Worten und dem Schwert unter sie bringen wird.«
Nathan hatte die Sätze genau verstanden, allein, sie tropften bei ihm ab. Er konnte sich nicht auf die für ihn unverständliche Zukunft konzentrieren, die Gegenwart war wichtiger.
Sie hieß, daß sie noch vor der Gruft standen und auf das verschlossene Gittertor starrten. Er wagte einen letzten Versuch und wußte, daß er sich lächerlich vorkam. »Ich kann es nicht öffnen«, sagte er leise. »Ich würde mich auch hüten.«
Wieder verschwand die Hand der Frau in der Rocktasche. Sie holte den Schlüssel hervor, der genau in das Schloß paßte. Es hatte zwar Rost angesetzt, auch der Schlüssel war nicht gerade blank, aber Sarah bekam durch die Drehungen die Tür auf.
Das Knarren der verrosteten Angeln
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