0599 - Die Kralle
und auch ein Butler, der so etwas wie ein Vertrauter Deliahs war. Sie kannte ihn von Kind auf. Damals war sie mit ihren Sorgen zu ihm gekommen, und auch als Erwachsene sprach sie darüber. Der Butler, er hieß George, gehörte zu den wenigen Personen, die Verständnis für sie hatten. Wahrscheinlich weil er ein normaler Mensch war und nicht in irgendwelchen Höhen schwebte wie ihre Mutter.
Ein sehr großes, mit alten Möbeln eingerichtetes Zimmer nannte sie ihr eigen. Hinzu kam ein Ankleideraum, ein geräumiges Bad und die Toilette extra.
Trotz dieses Platzes fühlte sich Deliah nicht sehr wohl. Sie hatte das Gefühl, einsam zu sein, denn es war niemand da, der ein Wort mit ihr sprach. Das Personal war beschäftigt, sie konnte es nicht stören, vor allen Dingen jetzt nicht, wo die Vorbereitungen zur Hochzeitsfeier liefen. Da hatte jeder alle Hände voll zu tun.
Sie schaute an sich herab und blickte auf das Leder der staubigen Reitstiefel. Vor einer halben Stunde war sie vom Ausritt zurückgekommen. Deliah ritt für ihr Leben gern. Auf dem Rücken des Pferdes spürte sie das Gefühl, das sie sehr bald vermissen würde – Freiheit.
»Heirate ihn nicht, ich bin noch da. Ich habe ältere Rechte!« So hatte Ricardo flüsternd gesprochen und ihr die Angstschauer über den Rücken gejagt. Auch als sie daran dachte, spürte sie, wie ihr Herz schneller schlug. Aber die Hochzeit noch absagen?
Sie steckte voller Zweifel, überlegte hin und her, ohne zu einem Entschluß kommen zu können.
Im Park sah sie zwei Männer. Der eine war der Gärtner, den zweiten kannte sie nicht. Er war für einen Monat eingestellt worden, man mußte einfach mehr Personal haben, um für das große Fest alles auf Vordermann bringen zu können.
So war der Butler dabei, ebenfalls die fremden Personen einzuweisen und ihnen zu zeigen, was alles dazugehörte, um einen perfekten Ablauf zu gewährleisten.
Deliah schüttelte den Kopf. »Mist, verfluchter!« schimpfte sie und trat vom Fenster weg. »Mist, ich will nicht. Mir fällt hier alles auf den Kopf.«
Als wären ihre Worte draußen verstanden worden, drehte der Hilfsgärtner plötzlich den Kopf und schaute an der Fassade hoch.
Sein Gesicht war nicht zu erkennen. Er trug einen alten Hut, dessen Krempe weit nach unten gebogen war.
Grinste er? Hatte er sie gesehen? Wußte er etwas? Deliah zitterte.
In jedem Fremden glaubte sie, einen Feind zu sehen. Etwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu.
Sie trat hastig zurück, wobei ihr einfiel, daß sie Senta, ihr Pferd, noch striegeln mußte. Sie hatte es nach dem Ausritt in aller Hast abgesattelt, aber nicht versorgt.
Wer ein Pferd besitzt, der hat gleichzeitig eine Verantwortung übernommen.
Von klein auf war es ihr eingehämmert worden, und danach hatte sie sich auch gerichtet.
Noch in Reitkleidung verließ Deliah das Zimmer. Die helle Bluse zeigte in den Achselhöhlen Schwitzflecken. Deliah war eine schöne, junge Frau. Sie erinnerte mit ihrem dichten, schwarzen Haar und der natürlichen Bräune ein wenig an die Tennisspielerin Sabatini, nur war Deliah Courtain drei Jahre älter.
Die Gänge im Haus boten wegen ihrer ungewöhnlichen Breite viel Platz. Sie kamen ihr einsam und leer vor, auch wenn Bilder an den Wänden hingen, Blumen aus hohen Bodenvasen schauten und einen frischen Sommerduft verbreiteten.
Draußen war es heiß. Selbst die Bäume konnten die Strahlen kaum dämpfen. Deliah hatte es während des Ausritts gemerkt und Senta doch sehr geschont.
Sie wollte das Haus durch einen Seiteneingang verlassen. Aus einer Tür, die zum Küchentrakt führte, kam George, der Butler. Er sah das Mädchen, blieb stehen und lächelte.
»Hallo, Deliah, wie geht es Ihnen?«
Sie schaute den schon älteren Mann an. Plötzlich hatte sie das Gefühl, weinen zu müssen. Im letzten Moment konnte sie es unterdrücken, nur die Mundwinkel zuckten. »Es… es geht so«, flüsterte sie.
George legte sein Gesicht in traurige Dackelfalten. »Wir kennen uns lange, Deliah. Was Sie mir da eben gesagt haben, klang nicht sehr optimistisch.«
»Das stimmt.«
»Sie empfinden keine Freude an Ihrer Hochzeit.«
»So ist es.«
»Tja…«, er hob die Schultern. »Ich kann Ihnen auch keinen Rat geben, Sie sind erwachsen, können selbst entscheiden, und da müssen Sie einfach durch.«
»Das stimmt.«
»Kann ich etwas für Sie tun?«
»Danke, das ist lieb, aber ich muß in den Stall und mich um Senta kümmern. Ich habe sie noch nicht abgerieben, eine kleine Todsünde
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