0599 - Die Kralle
waren Fußabdrücke zu sehen, die nicht ihr gehörten, und sie führten im rechten Winkel auf die Boxtür zu.
Hatte Senta Besuch bekommen?
Deliah konnte nicht ewig davor stehenbleiben. Sie sah nur die Tür, die übrigen Geräusche nahm sie nicht wahr und öffnete ziemlich hastig, so daß ihr Blick in die Box fiel.
Sie war völlig normal eingerichtet. Die Trinkrinne, der Platz für das Futter und auch genügend Raum, damit sich das Pferd bewegen konnte. Aber es bewegte sich nicht mehr.
Es lag auf dem Boden. Und genau dort, wo sich sein Hals befand, breitete sich eine dampfende Blutlache aus, die an den Rändern eingetrocknet war.
Das Blut stammte von einer tiefen Halswunde. Sie sah aus, als wäre sie von einer Kralle gerissen worden…
***
Deliah Courtain stand unbeweglich und war auch nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Alles, was sie hier erlebte, kam ihr wie im Traum vor, doch es war kein Traum. Senta, ihre Lieblingsstute, lag auf dem Boden, sie war tot, niemand würde sie mehr zurück in das Leben holen können.
Deliah schwitzte und fror zugleich. Die Angst und das Entsetzen hatten sich wie glühende Nadeln in ihren Körper gebohrt. Sie bekam kaum Luft. Wenn sie atmete, hörte es sich an, als würde sie röcheln und kurz vor dem Exitus stehen.
Die Box verschwamm vor ihren Augen. Sie hörte dabei das Summen der über der Blutlache kreisenden Fliegen überlaut. Die Welt hatte sich für sie von einer Sekunde zur anderen verändert. Das Grauen war hineingerast und hatte ihr einen Schlag versetzt. Daß sie den Namen des Pferdes unter Tränen flüsterte, kam ihr nicht in den Sinn. Sie wankte irgendwann zurück, stieß gegen die Stallwand und schritt wie eine Schlafwandlerin dem Ausgang entgegen, noch immer das fürchterliche Bild vor Augen.
Weiß wie ein Laken war Deliah geworden. Die Füße konnte sie kaum hochheben, bei jedem Schritt schleifte sie mit den Sohlen über den Boden, und ihre Bewegungen wurden müder.
Als sie die Stalltür erreichte, mußte sie sich dort festhalten, doch es war kein guter Halt. Sie glaubte, daß er ihr entrissen würde und merkte nicht, daß sie es selbst war, die einfach nicht mehr die Kraft besaß, sich auf den Beinen zu halten.
Neben der Tür sackte sie zu Boden. Ihre Hand scheuerte dabei über das Holz, der Mund zuckte, die Augen waren weit geöffnet, der Boden drehte sich zu einem Trichter, der nur darauf wartete, sie verschlingen zu können.
Deliah raste hinein!
Es war wie ein Schlund, er schluckte sie, er wollte sie nicht mehr freigeben. Daß sie den Boden berührte, merkte sie nicht. Deliah wurde erst wieder wach, als etwas Kaltes durch ihr Gesicht fuhr und eine zischende Stimme nach Eis verlangte.
Da öffnete sie die Augen. Über ihr schwebte ballonartig das Gesicht des Butlers George. Sie konnte es nur durch einen Schleier erkennen, wobei sie gleichzeitig die Stimme der Köchin Cathy vernahm, die mit frischem Eis kam.
»So, hier ist der Beutel.«
Deliah schloß die Augen, als sie die Kälte auf ihrer Stirn spürte. Sie wollte wegfliegen, einfach hineinsacken, nichts mehr sehen und hören. Das Eis sorgte dafür, daß sie wieder zu sich kam.
Deliah öffnete die Augen. Noch immer sah sie das Gesicht des Butlers. Diesmal klarer. Auch Cathy entdeckte sie. Beide sahen sehr besorgt aus. Cathy fragte sogar, ob sie einen Arzt anrufen sollte.
»Nein, bitte nicht, ich komme schon allein zurecht. Es… es wird mir gleich besser gehen.«
»George fand sie neben der Stalltür.«
Deliah schluckte. Sie hob einen Arm und legte ihre flache Hand auf den Eisbeutel. »Hast du auch… hast du … es gesehen? Ich meine, das mit Senta …«
»Ja, das habe ich gesehen.«
In ihrem Kopf pochte es. »Dann… dann war es also kein Traum, wenn ich recht verstehe?«
»Nein.«
Sie schluchzte auf. »Senta ist tot, mein Gott, sie ist tot. Man hat ihr die Kehle aufgeschnitten, einfach so. Ich habe das Blut gesehen – es roch so schlimm.«
»Das weiß ich.«
Sie faßte George an. Mit ihren harten Nägeln umklammerte sie seinen Arm. »Wer, George? Wer kann das getan haben? Wer tötet ein Pferd, das so harmlos ist?«
»Ich weiß es nicht, Miß Deliah. Es tut mir so unendlich leid, aber ich habe niemanden gesehen.«
»Ja, George, ja. Aber die Wunde… haben Sie die Wunde gesehen? Hast du sie dir angeschaut?«
»Nicht so gründlich«, wich er aus.
»Aber ich. Ja, ich konnte sie sehen. Es war schrecklich. Mein Blick wurde von ihr magisch angezogen. Der Hals war offen,
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