06 - Denn keiner ist ohne Schuld
durchging, die er auf dem Bett ausgebreitet hatte. Sie gähnte und erkannte im gleichen Moment, was das für Papiere waren. Sie hatten Robin Sages Karton mit dem Etikett Verschiedenes am vergangenen Abend dreimal durchgewühlt, ehe sie aufgegeben hatten und zu Bett gegangen waren. Aber Tommy war, wie es schien, noch nicht fertig damit. Er beugte sich vor, blätterte eines der Häufchen durch und lehnte sich wieder gegen das Kopfende des Bettes, als wartete er auf die große Erleuchtung.
»Die Lösung ist hier«, sagte er wieder. »Ich weiß es.«
Helen streckte unter der Decke ihren Arm aus und legte ihre Hand auf seinen Schenkel. »Sherlock Holmes hätte das Rätsel längst gelöst«, stellte sie fest.
»Bitte, erinnere mich nicht daran.«
»Hm. Du bist so schön warm.«
»Helen, ich versuche mich hier im deduktiven Denken.«
»Stör ich dich dabei?«
»Was glaubst du wohl?«
Sie lachte, griff nach ihrem Morgenrock, legte ihn sich um die Schultern und setzte sich zu ihm. Sie nahm eines der Papierhäufchen und blätterte es durch. »Ich dachte, du hättest die Lösung. Wenn Susanna wußte, daß sie schwanger war, und wenn das Kind nicht von ihm war, und wenn es keine Möglichkeit für sie gab, es als seins auszugeben, weil sie nicht mehr miteinander schliefen, was ja ihrer Schwester zufolge der Fall gewesen zu sein scheint... Was brauchst du denn noch?«
»Mir fehlt immer noch ihr Grund, ihn zu töten. Im Augenblick haben wir nur einen Grund für ihn, sie zu töten.«
»Vielleicht wollte er sie zurückhaben, und sie wollte nicht.«
»Na, er konnte sie wohl kaum zwingen.«
»Aber vielleicht hatte er vor zu behaupten, das Kind sei von ihm. Vielleicht wollte er sie durch Maggie zwingen.«
»Eine genetische Untersuchung hätte so einen Plan sehr schnell zum Scheitern gebracht.«
»Dann war Maggie vielleicht doch sein Kind. Vielleicht war er tatsächlich an Josephs Tod schuld, oder vielleicht glaubte Susanna, er sei schuld daran gewesen, und als sie entdeckte, daß sie wieder schwanger war, wollte sie ihn auf keinen Fall an dieses zweite Kind heranlassen.«
Lynley verwarf das mit einem kurzen Brummen und griff nach Robin Sages Terminkalender. Helen sah, daß er, während sie geschlafen hatte, auch das Telefonbuch herbeigeholt hatte. Es lag aufgeschlagen am Fußende des Betts.
»Dann... Warte mal.«
Sie ging wiederum das dünne Bündel Papiere durch, das sie in der Hand hielt, und fragte sich, warum, um alles in der Welt, sich irgend jemand bemüßigt fühlte, diese schmutzigen Handzettel aufzuheben, die einem auf der Straße an jeder Ecke in die Hand gedrückt wurden. Sie selbst hätte sie in den nächsten Abfalleimer geworfen.
Sie gähnte. »Erinnert mich irgendwie an die ausgestreuten Brotstückchen, die einem den Weg zeigen sollen«, bemerkte sie.
Er blätterte im Telefonbuch ganz nach hinten und suchte.
»Sechs insgesamt«, sagte er. »Ein Glück, daß es nicht Smith war.«
Er sah auf seine Taschenuhr, die offen auf seinem Nachttisch lag, und schlug die Decke zurück. Die Zettel flatterten in die Höhe wie vom Wind getriebene Blätter.
»Waren das Hänsel und Gretel, die die Brotkrumen ausgestreut haben, oder Rotkäppchen?« fragte Helen.
Er kramte in seinem Koffer, der offen auf dem Boden stand, die Kleidungsstücke darin ein einziges Durcheinander, bei dessen Anblick Denton entsetzt gewesen wäre. »Wovon redest du überhaupt, Helen?«
»Von diesen Papieren hier. Sie kommen mir vor wie so eine Brotkrumen-Spur. Nur hat er sie nicht ausgestreut, sondern er hat sie aufgehoben.«
Lynley fand den Gürtel seines Morgenrocks, setzte sich zu ihr aufs Bett und las noch einmal die Handzettel. Sie las sie mit ihm: Auf dem ersten wurde ein Konzert in St. Martin-in-the-Fields angekündigt; der zweite war eine Reklame für einen Autohändler in Lambeth; der dritte rief zu einer Versammlung im Rathaus von Camden auf; der vierte pries einen Frisiersalon in der Clapham High Street an.
»Er ist mit dem Zug hergekommen«, sagte Lynley nachdenklich und begann, die Handzettel neu zu ordnen. »Gib mir doch mal den Plan von der Untergrundbahn, Helen.«
Mit dem Plan in einer Hand fuhr er fort, die Handzettel zu ordnen, bis er die Versammlung im Rathaus von Camden an erster Stelle hatte, das Konzert an zweiter, den Autohändler an dritter und den Frisiersalon an vierter Stelle. »Den ersten hat er sicher am Euston Bahnhof mitgenommen«, meinte er.
»Und wenn er nach Lambeth wollte, dann hat er die Northern Line
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