060 - Der Henker von London
sondern einen Mann sprechen hören. Die gleiche Stimme wie gestern abend, als ich nicht einschlafen konnte.
Ich faßte mir an den Kopf, spürte, wie es in meinen Schläfen klopfte. Ich träumte nicht, nein! Ich stand hier, mitten auf einem Flur im Haus des Scotland Yard und hatte eine Stimme gehört. Entweder stand ich tatsächlich vor dem Irrsinn, oder es gab in dieser Stadt eine unsichtbare Macht, die mich für irgendwelche Zwecke im Kreis seiner Auserwählten aufgenommen hatte. Vielleicht sollte ich sterben? Krepieren wie O’Neil? Zerfetzt und zerrissen werden wie Peter Haley?
Die Angst kam. Ich sah wieder die Augen der Leute am Dock und wußte, daß ich mich ebenso vor dem unbekannten Grauen zu fürchten begann wie sie. Die Angst kam kalt über meinen Rücken, kroch meinen Nacken hinauf, fraß sich in meine Gedanken, stachelte meine Phantasie zu grauenhaften Bildern an.
„He, John!“
Ich zuckte zusammen, entspannte mich erst wieder, als ich Dan Reed in der geöffneten Bürotür stehen sah. „Was ist mit dir? Du siehst so blaß aus“, sagte er besorgt.
„Ich glaube, mir steckt eine verdammt eigenartige Krankheit in den Knochen“, log ich. „Es sind wieder die gleichen Schmerzen wie gestern abend.“
Ich warf das Geldstück ein, zog ein Päckchen Zigaretten und ging wieder zurück ins Büro.
„Ascorda ist am Telefon“, sagte Potter und hielt mir den Hörer hin.
„Hat er gesagt, was er will?“
„Er meint, er hätte eine Neuigkeit.“
Ich nahm Potter den Hörer aus der Hand. „Ja, hier Inspektor Condell. Was gibt’s, Ascorda?“
„Ich wollte fragen, ob Sie überhaupt mal daran dachten, nach einem gewissen Peter Haley in Ihren Polizeiakten zu suchen?“
„Herrje! Nein, das haben wir wirklich noch nicht“, rief ich aus und war wütend über mich selbst, weil ich das vergessen hatte. „Gibt es eine Akte über ihn?“
„Und ob es eine gibt“, antwortete Pete Ascorda lässig. „In unserem Archiv steht jedenfalls eine Menge über ihn. Peter Haley stand vor einem Jahr im Verdacht, seinen Onkel umgebracht zu haben. Verdacht ist vielleicht ein bißchen zuviel gesagt, jedenfalls ist der Tod seines Onkels bis heute noch nicht vollkommen aufgeklärt. Und Haley hat ganz schön viel geerbt.“
„Danke“, sagte ich hastig. „Bei Gelegenheit werde ich mich revanchieren. Und wenn Sie ein guter Mensch sind, bringen Sie unsere Dämlichkeit nicht allzu deutlich in Ihrem Blatt heraus.“
Man hörte förmlich, wie er grinste.
„Ich werde schweigen wie ein Grab, Inspektor. Dafür höre ich aber als erster von Ihnen, wenn der Fall vor der Aufklärung steht. Abgemacht?“
„Abgemacht“, sagte ich, legte auf und berichtete Dan, was ich eben zu hören bekommen hatte. Potter sprang in die Höhe und rannte fort, um die Akte über den Fall Haley zu holen. Dan Reed hörte mir weiter schweigend zu. Erst als ich geendet hatte, sagte er: „Dann hätten wir also den ersten Zusammenhang, John. Beide Opfer sind vermutlich Mörder, die ungestraft davongekommen sind.“
„Jetzt haben wir einen Namen für diesen Frankenstein“, sagte ich bitter. „Der Henker von London.“
Um neun Uhr am nächsten Morgen klingelte ich bei Claudia. Sie hatte sich umgezogen, etwas Make-up aufgetragen, aber sie war immer noch ziemlich erschöpft. Eine Krankenschwester hatte mir vorsichtig die Tür geöffnet und die Kette erst ausgehakt, nachdem ich ihr meinen Ausweis gezeigt hatte. Claudia saß im Wohnzimmer. Aus den Stereoboxen drang leise klassische Musik. Das Mädchen, das mich hereingelassen hatte, blieb unschlüssig in der Tür stehen.
„Ich glaube, Sie können ruhig nach Hause gehen“, sagte Claudia. „Sie sehen ja selbst, daß es mir schon wieder einigermaßen gut geht.“
Ich wartete, bis das Mädchen aus dem Zimmer war, dann ging ich zu Claudia hinüber, blieb vor ihr stehen, sah zu ihr hinab. Die Flammen des Feuers im Kamin zauberten zitternde Schatten in ihr blasses Gesicht.
Ihr Blick war auf mich gerichtet. Groß, fragend.
„Geweint?“
Sie nickte. „Ja“, sagte sie leise. „Geweint. Geweint, weil Peter diesen entsetzlichen Tod nicht verdient hat.“
Ich setzte mich neben sie. Eine Weile starrten wir schweigend in die Flammen. Draußen klappte die Tür, als die Helferin das Haus verließ.
„Du – hast ihn geliebt, nicht wahr?“
Das „Du“ hing zwischen uns, verband uns wie eine dicke Eisenkette, schmiedete uns zusammen. Es war einfach so über meine Lippen gekommen. Unüberlegt,
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