060 - Der Henker von London
Augenblick wußte ich, daß es ein Tag werden würde, an dem nichts, aber rein gar nichts klappte. Es war Montag! So ein richtig trostloser Wochenbeginn, und daran würde ich nicht das geringste ändern können.
Es begann mit Potter. Potter, so heißt der Sergeant, mit dem ich bei Scotland Yard in einem Büro sitze. Kaum, daß ich den Wagen im Hof abgestellt hatte, kam Potter auch schon um die Ecke gerannt. Mit wehender Jacke, keuchend und käseweiß um die Nase herum.
„Inspektor!“ rief er schon von weitem. „Herrgott, bin ich froh, daß Sie endlich da sind! Wir müssen sofort zum East-India-Dock.“
„Wie schön“, sagte ich sarkastisch. „Was gibt’s denn da so früh am Morgen anzuschauen?“
Der Sergeant schluckte, wobei sein Adamsapfel sich im Hals auf und nieder bewegte. „Da ist ein Mann ermordet worden. Die Leiche muß übel zugerichtet sein. Inspektor Reed ist bereits mit den anderen ’rausgefahren. Ich warte schon seit einer Viertelstunde auf Sie, Sir.“
Na also! dachte ich. Wie ich’s mir vorgestellt hatte. Ich komme an, steige aus dem Wagen und schon gibt’s eine Leiche in den Docks. Ein schöner Montag!
„Mann!“ schimpfte ich. „Sie hätten wenigstens warten können, bis ich im Büro bin.“
„Tut mir leid, Sir, aber der Chef hat’s so befohlen. Es muß ein dickes Ding sein, da draußen.“
Wütend sah ich an der Hauswand mit den vielen hundert Fenstern hoch. Dann schloß ich brummelnd den Wagen wieder auf und ließ mich auf den Fahrersitz sinken. Sergeant Potter hockte im Nu neben mir.
„Kennen Sie den Weg, Sir?“ fragte er.
„Du lieber Himmel“, sagte ich und stöhnte. „Ich bin in London aufgewachsen, Potter. Fragen Sie mich, wo ein Baum mit schiefen Ästen wächst, und ich zeige Ihnen genau die Stelle.“
„Wo wächst denn so einer, Sir?“
„Mann!“ sagte ich und warf meinem Nachbarn einen unfreundlichen Blick zu.
Man braucht nur den Neugierigen nachzufahren, dann findet man immer die Stelle, wo es einen Toten gibt. Eine solche Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer, und die Sensationshungrigen schießen wie Unkraut aus dem Boden. Bei den Docks war es heute morgen besonders schlimm.
Hunderte von Menschen wurden von Bobbys zurückgedrängt, Blitzlichter zuckten über die Kaianlagen, erhellten flüchtig die düsteren Wände der Lagerhallen und die grauen, ausdruckslosen Gesichter der Leute. Polizeiwagen überall, wohin ich sah. Reporter standen in kleinen Gruppen zusammen. Doch die Menge war still. Das war eigenartig.
Ein seltsames, bedeutungsvolles Schweigen hing über dem Dock. Es war wie die Rühe vor dem Sturm. Man sah es deutlich in den Gesichtern der Menschen: Etwas Furchtbares mußte passiert sein. Etwas, das sie alle noch nicht begriffen.
Ich schob mich zwischen ein paar Leuten hindurch in die Richtung, wo ich eben für einen kurzen Augenblick den feuerroten Haarschopf meines Kollegen Dan Reed gesehen hatte. Dan und ich arbeiteten schon seit sieben Jahren bei der Mordkommission. Lange sieben Jahre waren das gewesen, in denen wir fast täglich auf irgendeine Weise dem Tod begegnet waren. Unsere Herzen hatten Panzer bekommen, die Seele war abgeschirmt gegen Eindrücke, die Erschossene oder verstümmelte Leichen sonst bei anderen Leuten hinterlassen. Wir waren hart im Nehmen geworden. Und das hatte uns irgendwann zu Freunden gemacht.
Dan sah mir entgegen. Sein Blick drückte alles aus. Es ist etwas Grauenhaftes passiert, John! Am besten du bereitest deine hartgewordene Seele darauf vor, sagten seine Augen. Wir haben schon viel gesehen, aber so was noch nicht. Sieh dir die Leute an, John. Sieh in ihre Gesichter, und du weißt Bescheid.
„Morgen, Dan“, sagte ich. Meine Stimme klang heiser, kratzig. „Was gibt’s?“
Dan nickte mir einen Gruß zu, faßte mich am Arm und ging langsam mit mir auf eine der Lagerhallen zu. Die Stille um uns war beklemmend.
Wir bogen um die Ecke. Scheinwerfer erhellten einen – vor den Neugierigen verborgenen – Flecken von etwa vier Meter im Quadrat. Ich sah den Rücken des Polizeiarztes, der über eine Gestalt gebeugt am Boden hockte. Sie lag dicht an der Wand des Schuppens. Der Boden um sie herum war vom Blut rotgefärbt.
„Hallo, Doc“, rief Dan mit gedämpfter Stimme. „Inspektor Condell ist gekommen. Lassen Sie ihn mal einen Blick auf den Mann werfen.“
Dr. Hall drehte den Kopf, blickte mich ernst an und trat beiseite. Und dann überwältigte es auch mich: das Grauen! Nichts, als nacktes, furchtbares
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