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060 - Der Henker von London

060 - Der Henker von London

Titel: 060 - Der Henker von London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter T. Lawrence
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Entsetzen!
    „Mein Gott!“ flüsterte ich fassungslos. „Das gibt es doch gar nicht, Dan.“
    Ich hatte schon viel gesehen. So viel, daß ich abgestumpft war. Doch nie zuvor war mir eine Leiche unter die Augen gekommen, die dermaßen zugerichtet war wie dieser Mensch dort an der Mauer. Viel war nicht mehr von ihm geblieben. Aber genug, um die Angst aus seinem verquollenen Gesicht herauszulesen.
    „Du meine Güte!“ stieß ich hervor. „Wie kann so was nur passieren? Wann hat man die Leiche gefunden, Dan?“
    „Vor einer guten Stunde. Zwei Hafenarbeiter haben sie entdeckt. Beides stämmige Kerle. Aber einer brach bei dem Anblick zusammen, der andere schrie noch, als sie ihn mit dem Wagen zum Krankenhaus fuhren.“
    Ich blickte wieder zu der Leiche, die in einer riesigen, dunkelroten Blutlache lag, dann wandte ich mich ab.
    Dan starrte an mir vorbei ins Leere. „Er hat das Grauen gesehen“, sagte er langsam. „Wäre er von einem Tier angefallen worden, so hätte er sich verzweifelt gewehrt, John. Aber ich schwöre es bei allem, was mir heilig ist: Diese arme Kreatur wurde nicht von einem Raubtier zerrissen, sondern von irgend etwas anderem.“
    „Du bist ja verrückt“, entgegnete ich, aber ich wußte ebenso wie er, daß er die Wahrheit gesagt hatte. Der Mann mußte einem schrecklichen Ungeheuer in die Klauen geraten sein. Eine andere Erklärung gab es nicht. „Was meint Dr. Hall?“ fragte ich. „Kann er schon Genaueres sagen?“
    Dan Reed schüttelte den Kopf.
    „Nein. Aber auch er glaubt, daß der Mann vor Angst wahnsinnig geworden sein muß.“
    „Ich habe noch nie einen Toten gesehen, dem so das Grauen im Gesicht stand“, flüsterte ich.
    Eine Frau wimmerte hinter uns in der bis jetzt schweigenden Menschenmenge. Die Hysterie begann wie ein loderndes Feuer zu wüten. Die Leute trampelten sich nieder, Frauen schrien gellend auf, Kinder weinten, rannten davon.
    „Das ist der Anfang“, sagte ich mit belegter Stimme. „Ich wußte es schon, bevor ich den Mann da liegen sah. Spätestens in zwei Stunden geht das Grauen in ganz London um.“
    Ich lief rasch zu den Reportern hinüber, um zu retten, was noch zu retten war.
    Pete Ascorda von der Evening Post hatte sich wie immer zum Sprecher der Reporter gemacht. Katzenhaft geduckt wie ein Raubtier stand er vor den anderen Männern und musterte mich. Ein paar Passanten starrten aus einiger Entfernung zu uns herüber. Die meisten waren jedoch davongelaufen.
    „Na, Inspektor, wie sieht’s aus?“ Pete Ascorda deutete mit grimmigem Gesicht zu der Gebäudeecke hinüber, die, als wolle sie das nahende Unheil aufhalten, die Leiche vor den Blicken der Reporter verbarg. „Zwei Hafenarbeiter haben durchgedreht, und ohne daß einer was gesagt hat, kommt Panik unter den Leuten auf. Keiner weiß genau, was es dort hinter der Mauer zu sehen gibt, aber alle haben Angst.“ Der Reporter sah mir fest in die Augen. „Ich glaube, Sie sollten uns jetzt nichts vorlügen, Condell.“
    „Es gibt nichts zu lügen“, antwortete ich. „Sie haben es ja eben selbst erlebt. Die Angst kommt von allein. Irgendwo, tief in einem versteckten Seelenkämmerchen, schlummert ein Instinkt in uns, der vor Unheil warnt; der einem Angst einflößt, wenn man Angst braucht; der einem rät, zu fliehen, wenn man fliehen muß. Alle diese Leute, die eben hier standen, spürten das drohende Unheil. Sie wußten anfangs nur nichts mit diesem Gefühl anzufangen. Der Stadtmensch hat es verlernt, seinen Instinkten zu gehorchen.“
    „Herrgott, erzählen Sie uns nichts über Instinkte“, antwortete Ascorda ungeduldig. „Was wir brauchen, sind Fakten, Tatsachen, Inspektor. Unsere Leser wollen wissen, was am East-India-Dock passiert ist.“
    Wieder fühlte ich Schmerzen in meinen Gelenken und Mattigkeit, die mich seit dem frühen Morgen nicht mehr losließ. Nun kamen Kopfschmerzen hinzu. Dumpfe, pochende Schmerzen hinter der Stirn und den Schläfen.
    „Sie können sich die Leiche alle ansehen“, sagte ich müde. „Aber Sie müssen mir versprechen, die Sache nicht aufzubauschen. Sie ist schlimm genug. Zu schlimm, als daß wir wegen irgendeines ehrgeizigen Reporters eine Massenhysterie in der Stadt auslösen; Fotos sind ebenfalls nicht drin.“
    Die Männer schimpften ein bißchen, dann gaben sie mir ihr Wort. Sie liefen los, hatten es ziemlich eilig, um die Ecke der Lagerhalle zu kommen. Ich blieb stehen und sah ihnen nach. Ein Ruck ging durch das Häuflein Menschen, als sie die Stelle erreichten,

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