0602 - Brutstätte des Bösen
abgespreizten Finger kamen mir vor wie dicke Spinnenbeine. An den Spitzen vibrierten sie, als würden Stromstöße hindurchfahren.
Ich schaute nach links, wo die Wand der Kapelle kaum durch Fenster unterbrochen wurde. Und wenn, dann waren es nurmehr lückenhafte Öffnungen, durch die wenig Licht sickerte und sich als blasse Streifen auf dem Steinboden verlor.
Rosa stand mit zusammengepreßten Beinen vor uns. Die Haltung veränderte sich auch nicht, als sie sich auf der Stelle drehte, um direkt in die Kapelle zu schauen.
Auch jetzt überstürzte sie nichts, ließ sich Zeit damit. Ich spürte Glendas Fingerdruck an meiner Hand. Sie war ziemlich aufgeregt, mich hatte ebenfalls ein Gefühl der Spannung erfaßt. Ich überlegte, ob ich mein Kreuz hervorholen sollte, ließ es jedoch stecken, denn noch war nichts Außergewöhnliches vorgefallen.
Rosa drehte sich weiter. Wir sahen ihr Profil. Sie hatte eine kleine, gerade Nase, die sich wie ein Schattenriß von ihrem Gesicht abhob.
Ihr Körper war sehr schlank. Das Oberteil fiel weich und weit über die Figur, so daß von ihr kaum etwas zu sehen war.
Dann sahen wir sie.
Ich konzentrierte mich dabei auf ihr Gesicht. Der Kerzenschein erreichte es kaum, ließ das meiste im Schatten, aber ich hatte den Eindruck, innerhalb der Augen einen bläulichen Schimmer zu entdecken, der urplötzlich zunahm.
Wieder hörten wir den Schrei!
Brutal zerriß er die Stille in der Kapelle und war noch nicht verklungen, als die Gestalt des Mädchens wirkte, als wäre sie in helle Flammen getaucht.
Nein, es war kein Feuer. Strahlend helles, kaltes Licht umflorte sie, zeichnete ungemein scharf die Umrisse des Körpers nach und hatte sich in den Augen konzentriert.
Augen, die keine mehr waren. Mich erinnerten sie an runde, gleißende Spiegel, die innerhalb der Augenhöhlen zitterten und Blitze entließen. Sie zuckten durch die Kapelle, huschten an uns vorbei wie wirbelnde, dünne Striche, und wir spürten tatsächlich etwas von der zerstörerischen Kraft, die in ihnen steckte.
Unwillkürlich duckten wir uns, vernahmen abermals den Schrei, jetzt durchdrungen von einem nur schwer zu verstehenden Satz, der es allerdings in sich hatte.
»Ich habe es gesehen. Das Höllentor ist offen! Das Böse wird kommen! Es hat das Höllentor verlassen, es ist schon da! Hütet euch vor der Schlange, hütet euch!«
Noch einmal hatte sie kräftig geschrien. Dann verlosch der kalte Glanz in ihren Augen, Rosa wurde wieder normal. Sie blieb stehen, schwankte dabei, es sah so aus, als würde sie jeden Augenblick von der Altarplatte kippen, und ich bewegte mich schon vor, um sie im Notfall auffangen zu können.
Rosa war der Schlüssel zum Höllentor. Sie sah mehr als wir, wir mußten mit ihr reden.
Sie sank zusammen. Es war so, als würde sie sich ineinanderschrauben. Ihre Glieder verloren den Kontakt, sie zitterte, weinte leise und wäre gefallen, wenn ich sie nicht mit einem raschen Sprung erreicht hätte.
Im letzten Augenblick war ich auch über die Stufe hinweggehuscht, die sich vor dem Altar wie eine Platte ausgebreitet hatten.
Sie fiel in meine Arme. Ich nahm ihren Körpergeruch wahr, ich merkte ihr Zittern und hörte Glenda Perkins flüstern: »John, mein Gott, dreh dich um!«
Sofort ließ ich Rosa los, die auf dem Altarstein zusammensank.
Schweratmend blieb sie dort liegen.
»John…«
Ich drehte mich – und bekam den Schock mit wie ein Schwall eiskaltes Wasser.
Die Bewohner des Ortes hatten sich erhoben.
Das wäre nicht weiter tragisch gewesen. Ich aber entdeckte die Waffen in ihren Händen, und der Mann, der uns vorhin eine Warnung zugezischt hatte, sprach auch jetzt.
»Wir werden sie töten!« sagte er…
***
Davon war ich überzeugt, denn nicht nur er hielt den Griff eines langen Messers umklammert, auch die anderen hatten sich mit Scheren, Messern und sogar Knüppeln bewaffnet. Ihre Gesichter verschwammen in der Düsternis des Kapellenschiffs. Für mich waren sie nurmehr blasse Umrisse, aber Flecken, in denen die Augen wie gefüllte Löcher wirkten und dabei den Tod versprachen.
Bevor ich etwas sagte, winkte ich Glenda zu, die verstand und sich neben mich stellte. »Gib du auf Rosa acht. Wenn es eskaliert, pack sie dir und verschwinde.«
»Wohin denn?«
»Ich habe im Hintergrund eine schmale Tür entdeckt. Vielleicht führt sie nach draußen.«
»Gut.«
Der Sprecher verließ seine Bank. Er trug einen dunklen Anzug.
Sein Haar umwuchs den Kopf wie Gestrüpp. »Geh aus dem Weg!«
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