061 - Im Reich der Tausend
sie die schrecklichsten Dinge und Waffen gesehen. Waffen, die alles im weiten Umkreis vernichten konnten, waren ihr nicht mehr fremd. Sie fragte sich, warum Oberst Hartwig ihr all dies erzählte.
»Wir sind nicht mit dem Auftrag gekommen, das Reich der Tausend zu erobern«, fuhr Oberst Hartwig mit ruhiger Stimme fort. Er räusperte sich. »Der Fürst von Yukonia hat uns vielmehr beauftragt, Kontakt mit dem Herrscher eures Reiches aufzunehmen, um einen Pakt mit ihm zu schließen.«
Das Reich der Tausend? »Einen Pakt?«, fragte Aruula. »Was für einen Pakt?«
»Einen Beistandspakt«, sagte Oberst Hartwig. »Diktiert von gegenseitiger Achtung und gegenseitigem Vertrauen.«
»Gegen wen?«
Der Graubart schaute Aruula leicht erstaunt an. Hätte sie in diesem Moment seine Gedanken hätte lesen können, hätte sie den Grund dafür erfahren.
Die Kleine ist ziemlich scharfsinnig. Und sie sieht so verdammt gut aus, dass ich Vanessa auf keinen Fall zu ihrer Bewachung abstellen darf. Er hielt inne. Oder vielleicht gerade deswegen? In seinem Kopf nahm plötzlich ein Plan Gestalt an.
»Seit einiger Zeit«, fuhr er fort, »häufen sich bei uns Meldungen über marodierende Banden, die möglicherweise von der Beringstraße kommen. Sie sind offenbar darauf aus, die südlichen Reiche zu vernichten. Wenn wir uns nicht gegen sie zusammentun…« Er zuckte die Achseln. »Es könnte uns allen übel ergehen.«
In Aruula keimte allmählich der Verdacht auf, dass dieser Oberst Hartwig sie für jemanden hielt, der sie nicht war. Sie entnahm seinen Worten, dass er glaubte, sie sei Bürgerin eines »Reiches der Tausend«. Doch davon hatte sie nie gehört.
Sie stellte sich die Frage, ob es gut oder schlecht war, wenn sie ihm die Wahrheit gestand. Als Bewohnerin dieses mysteriösen Reiches war sie vielleicht wichtig für ihn.
Zeit, dachte sie. Ich muss Zeit gewinnen.
»Wie kann ich dir helfen, Oberst Hartwig?«
Der Oberst spitzte die Lippen. »Wir brauchen Informationen. Das Reich der Tausend war für uns bisher ein Mythos. Eine Legende. Seine genaue Lage kennen wir nicht. Wir wissen nicht, wie wir mit euren Herrscher Kontakt aufnehmen können.«
»Die Lage unseres Reiches«, erwiderte Aruula vorsichtig, »ist geheim.«
»Das wissen wir«, sagte Oberst Hartwig. »Und so soll es auch bleiben.« Er seufzte.
»Aber wenn wir kein Gespräch mit eurem Herrscher führen können, können wir auch keinen Pakt mit ihm schließen, der euer Reich und das unsere vor den Banditen schützt.«
Aruula nickte. Oberst Hartwig wirkte Wie ein netter Mann. Zumindest äußerlich. Die Frau neben ihm - sie war ungefähr in Aruulas Alter - war hübsch. Sie hatte allerdings einen hungrigen Blick, der Aruula beinahe auffraß. Ob sie ähnlich veranlagt war wie Brina, die Fassadenmalerin aus El'ay?
Aruula schüttelte die Gedanken ab. Jetzt galt es eine Entscheidung zu fällen, die Oberst Hartwig bei Laune hielt und verhinderte, dass er zu anderen, unangenehmen Mitteln griff, um zu erfahren, was er wissen wollte.
»Ich muss nachdenken«, sagte Aruula leise. »Es ist eine schwere Entscheidung.«
»Ich verstehe.« Oberst Hartwig streckte eine Hand aus und klopfte Aruula auf die Schulter. »Ich verstehe vollkommen. Lass dir Zeit, Aruula, aber nicht zu lange.« Er drückte auf einen Knopf, woraufhin sich vorn, wo er und die hübsche Frau saßen, zischend die Fahrzeugwand öffnete. Hartwig nickte der Frau zu, und beide stiegen aus. Das Zischen ertönte erneut. Aruula blieb mit dem Mann mit den Aiko-Augen allein. Es dauerte aber nicht lange, dann kam die Frau zurück und winkte den Mann hinaus. Er ging ohne Widerspruch, und die Frau nahm neben Aruula Platz.
Sie roch sehr gut, aber ihr Blick war nun noch hungriger.
Hoffentlich ist Aiko noch ohne Bewusstsein, dachte Aruula. Hoffentlich kann ich mit ihm sprechen, bevor Oberst Hartwig es tut. Und hoffentlich habe ich bis dahin eine Idee, wie wir hier rauskommen…
***
Als Kevin Hartwig in dem kalten Innenhof der alten Bibliothek stand und zu den wirbelnden Flocken hinauf schaute, die das Sternenlicht verdeckten, räusperte sich Hauptmann Nanuuk und sagte: »Glaubst du, die Kleine hat die Geschichte von dem Beistandspakt geschluckt?«
»Tja, Tom, das wissen nur die Götter.« Hartwig drehte sich um und deutete mit dem Kinn auf den Panzer, in dem Leutnant Vanessa Feddersen und Aruula nun allein waren.
»Dumm ist sie jedenfalls nicht.«
»Und auch nicht schwach.« Der Hauptmann mit den asiatischen Augen betastete
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