0615 - Die Satans-Vision
ich vor mir zu Boden gestellt.
Der Wirt kam. Ein dicker Mann mit Halbglatze. Ich bin kein Modegeck, aber die Strickjacke, die er trug, wäre bei mir längst auf dem Müll gelandet. Das Hemd darunter sah auch nicht mehr sauber aus.
Als wir Kaffee bestellten, nickte er nur.
Ich hörte das Zischen einer Kaffee-Maschine und reichte der jungen Frau Feuer, als sie sich eine Zigarette zwischen die Lippen steckte. Aus großen Augen schaute sie mir ins Gesicht.
»Wir kennen uns nicht«, sagte sie. »Trotzdem habe ich das Gefühl, als sähe ich Sie nicht zum erstenmal. Komisch, nicht?«
»Das kann vorkommen, aber jetzt berichten Sie bitte von sich. Wenn möglich.«
»Dazu müßten Sie mir vertrauen.«
Ich lächelte. »Probieren Sie es bitte.«
Zuerst kam der Kaffee. Ich zahlte, schaute mir die Tassen an und war zufrieden, daß sie sauber waren. Er schmeckte sogar ziemlich gut und wärmte vor allen Dingen auf.
»Ich weiß nicht, Monsieur Sinclair…«
»Bitte, sagen Sie John.«
»Ja, John. Also, ich weiß nicht, wie weit Sie aufnahmefähig sind, ob Sie nicht gewisse Dinge erschrecken, für die man die Worte unmöglich oder unwahrscheinlich einsetzen kann. Verstehen Sie mich nicht falsch, aber ich habe tatsächlich erlebt, daß es Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die man mit der Schulweisheit nicht erfassen kann.«
»Darüber machen Sie sich bitte keine Sorgen, Anne. Ich gehöre zu den Menschen, die, sagen wir, beruflich mit Phänomenen zu tun haben, die etwas außerhalb der Schulweisheit liegen.«
»Ach ja?«
Näher ging ich darauf nicht ein, sondern bat Anne, endlich zu beginnen. Und sie erzählte. Dabei traute sie sich nicht, mich anzublicken, sondern schaute an mir vorbei. Ihr Blick verlor sich in der Weite der Halle, wo sie auch die zahlreichen Menschen kaum wahrnahm, die sich dort bewegten. Es herrschte plötzlich Betrieb, nur dieses kleine Bistro blieb wie eine Insel.
Sie erzählte von ihren furchtbaren Visionen, und als sie bei der dritten, der letzten, angelangt war, da schossen plötzlich Tränen aus ihren Augen, weil sie es nicht begreifen konnte. Zu stark litt diese Frau noch unter den Erinnerungen.
Ihr Kaffee war kalt geworden, sie nippte dennoch daran, putzte sich die Nase und wischte über ihre Augen. »Jetzt halten Sie mich möglicherweise für eine Psychopathin – oder?«
»Das bestimmt nicht.«
»Ich… ich wundere mich über mich selbst, daß ich Ihnen meine Geschichte erzählt habe. So etwas wäre mir sonst nie eingefallen, glauben Sie mir. Ich wollte Sie auch nicht damit belasten …«
»Das tun Sie auf keinen Fall, Anne. Ich bin froh darüber, daß Sie sich ausgesprochen haben.«
»Und Sie glauben mir?«
»Ja.«
»Voll und ganz?«
»Wenn es Sie beruhigt, auch das!«
Ich hörte sie atmen, dann schüttelte sie den Kopf und sagte mit leiser Stimme. »Pierre Rodin hat mir nicht geglaubt, fürchte ich.«
»Wer ist das?«
»Der junge Mann, von dem ich Ihnen erzählte. Er hatte versprochen, mich heute morgen anzurufen, das ist aber nicht geschehen, ich war sehr enttäuscht…«
»Dafür spürten Sie den Befehl oder Druck, zum Bahnhof zu müssen.«
Erstaunt blickte Anne Geron hoch, »nichtig, John, das stimmt genau. Zum Bahnhof, ich mußte einfach zum Bahnhof, und ich mußte zu einer bestimmten Uhrzeit dort sein.«
»Was Sie auch geschafft haben.«
»Gerade noch.«
»Wie soll es jetzt weitergehen?« fragte ich vorsichtig nach, weil ich Anne noch mehr aus der Reserve locken wollte.
»Das weiß ich auch nicht.«
»Dann habe ich Ihnen etwas zu sagen. Ich glaube nämlich nicht, daß unser Zusammentreffen hier einem Zufall entspricht. Ich habe ebenfalls einen Grund für meine Reise.«
»Doch nicht mich!«
»Indirekt schon.«
»Können Sie das denn erklären?«
Ich lächelte sparsam. »Das wohl nicht, aber ich kann Ihnen den Grund zeigen.«
Anne begriff nicht. Sie rieb ihre Handflächen gegeneinander. Daß sie aufgeregt war, erkannte ich an ihren Wangen, die ihre Blässe verloren hatten und eine gewisse Röte zeigten. Verwundert schaute sie zu, wie ich den schmalen Koffer anhob und ihn auf den runden Tisch legte, aber nicht öffnete.
»Befindet sich der Grund darin?«
»Das hoffe ich doch. Bitte, kommen Sie zu mir. Sie sollen einen Blick in den Koffer werfen.«
Während Anne um den runden Tisch herumging, ließ ich den Deckel hochschnappen. Er stand senkrecht, sie schaute hinein und sah die wundervolle Ikone.
»Mein Gott, ist die schön.«
»Davon einmal ganz abgesehen,
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